Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung
mögen.
Unterschrift Datum
Abdruck des kleinen Fingers Ihrer rechten Hand hier anbringen:
WARNUNG:
Falls Sie durch irgendeinen Zufall außerhalb der rechtmäßigen Universitätskanäle an diesen Text gelangt sein sollten, schließen Sie dieses Buch bitte jetzt, und benachrichtigen Sie die zuständigen Stellen, damit diese für eine sichere Wiedereinbringung sorgen können. Das Versäumnis, dieses zu tun, kann zu Ihrer sofortigen Verhaftung und Einkerkerung führen.
Sie wurden gewarnt.
Hexenstern
Zu Ende geht die lange Nacht, der Magik letztes Licht erwacht. Ist es nicht seltsam, an einem strahlenden Frühlingstag vom Tod zu träumen?
Unter den wärmenden Strahlen der Sonne erwachen die Keil Inseln zu neuem Leben. Von den Stränden trägt der Wind helles Kinderlachen herüber. Die Tage werden länger. Die Hügel leuchten im jungen Grün, und die Knospen öffnen sich im neuen Licht. Fensterläden werden aufgestoßen, Blumenkästen werden bepflanzt. Es ist die Zeit der Wiedergeburt.
Doch ich schaue aus meinem Dachfenster hinaus in die Pracht und weiß, dass mich nur noch ein Federstrich vom Tode trennt. Ein Tintenschnörkel, und ich bin nicht mehr. Noch nie erschien mir das Versprechen der Hexe, mich aus dem endlosen Kreislauf der Jahreszeiten zu befreien, so glaubwürdig wie jetzt. Und das genieße ich.
Auf dem Schreibpult habe ich mein Handwerkszeug zusammengetragen. Beim Kauf habe ich keine Kosten gescheut. Ich habe das Geld so achtlos ausgegeben, wie die Schlange ihre Haut abwirft. Das feinste Pergament aus Windheim, die beste Tinte, die bei den Händlern in Da’bau zu bekommen war, und von den Schneereihern, die jenseits des Meeres in der Stadt Que kai durch die Kanäle waten, die schönsten Federn.
Nun liegt alles bereit und harrt meiner letzten Geschichte. Ich brauche nur noch wie ein Zauberer mit Tinte und Pergament den Tod zu beschwören.
Aber noch zaudere ich, und auf den Pergamentrollen und den kleinen Tintengläsern sammelt sich der Staub. Warum? Gewiss nicht, weil ich am Versprechen der Hexe zweifelte oder weil ich gar an diesem Frühlingstag den Tod fürchtete. Zunächst dachte ich tatsächlich, ich wollte das Ende nur hinauszögern, um es wie eine lustvolle Folter möglichst lange auszukosten.
Doch das war ein Irrtum. Es gibt einen viel einfacheren Grund.
Das erkannte ich heute Morgen, als mein Blick auf einen Ast vor meinem Dachfenster fiel, wo ein kleiner Kak’ora Vogel sein mit Federn gepolstertes Nest gebaut hatte. Das Gefieder der Vogelmutter ist tiefschwarz, nur ihre Brust ist so leuchtend rot, als hätte man ihr die Kehle durchgeschnitten. Den lieben langen Tag jagt sie Insekten oder scharrt unten auf der Straße zwischen den Steinen in der Erde. Deshalb bleibt ihr Nest meistens unbewacht, und die drei Eier liegen offen vor meinem leeren Blick.
Ich hatte das kleine Gelege schon seit mehreren Tagen beobachtet, denn ich vermutete unter den glatten blauen Schalen mit den braunen Sprenkeln ein Geheimnis, das es zu ergründen galt. Doch was für ein Geheimnis mochte das sein?
Die Erkenntnis dämmerte mir heute Morgen. Jedes Ei ist ein Symbol für das Leben mit seinen endlosen Möglichkeiten. Was steht den Küken wohl bevor? Vielleicht schlüpfen sie gar nicht erst aus, sondern ersticken noch in der Schale. Eins könnte von einer Katze erwischt werden, bevor es fliegen gelernt hat, und eins könnte einer Krankheit zum Opfer fallen oder verhungern
oder im nächsten Frühling in dasselbe Nest zurückkehren und eine eigene Familie gründen, und dann begänne alles von vorn. Welches Potenzial, wie viele Wege, und das alles in drei Eiern, nicht größer als mein Daumen.
Das Leben mit seinen endlosen Möglichkeiten … das war meine Entdeckung heute Morgen.
Was bedeutet sie für mich? Soll ich das Ringen um den Tod aufgeben und mich abermals ins Leben stürzen?
Nein … ganz sicher nicht.
Während ich diese Eier betrachtete, wurde mir klar, dass nicht die vielen Möglichkeiten ein Leben lebenswert machen, sondern dass einzig die Entdeckung des eigenen, einmaligen Lebensweges von der Wiege bis zum Totenbett dem Dasein Sinn verleiht.
Was ich von der Hexe erbat, was sie mir, Geschenk und Fluch zugleich, gewährte die Unsterblichkeit , war eine Farce. Wenn man die Unendlichkeit vor sich sieht, wird auch das Potenzial des Lebens, werden seine Möglichkeiten unendlich. Wenn einem alle Wege offen stehen, verkümmert man selbst zum niemals realisierten Potenzial. Bei so vielen Wegen verirrt man
Weitere Kostenlose Bücher