Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
einer der Ausnüchterungszellen des Reviers Mitte seinen rekordverdächtigen Rausch ausschlief und sich nicht im Geringsten für das Schicksal seiner Tochter interessierte.
»Der Arzt meint, von Rechts wegen dürfte der Mann gar nicht mehr am Leben sein. Drei Komma irgendwas. Er scheint eine gut trainierte Leber zu haben.«
»Und die Mutter?«
Ich zuckte die Achseln. »Von einer Mutter war bisher nicht die Rede.«
Die Bahn bremste. Mannheim Hauptbahnhof, verkündete die weibliche Tonbandstimme. Alles drängte zu den Türen, als wäre plötzlich Feuer ausgebrochen. Theresa und ich waren unter den Letzten, die ausstiegen. Wir hatten es nicht eilig. Wir waren zum Vergnügen hier.
Auf dem Weg zur Bahnhofshalle kam mir ein Gedanke. »Wäre es schlimm, wenn wir einen kleinen Umweg machen würden?«, fragte ich.
Theresa lächelte nachsichtig und zog mich fester an sich. »Vergiss nicht, ich bin seit zwanzig Jahren mit einem Polizisten verheiratet.«
Erfreulicherweise stand keine Schlange am Infopoint.
»Aus Straßburg?«, fragte eine müde Frau in schlecht gebügelter Uniform. »Augenblickchen … Der letzte kommt hier um ein Uhr achtundzwanzig in der Nacht an. Der nächste dann erst wieder am Morgen. Sechs Uhr zweiundzwanzig.«
»Denkst du etwa, der Vater hat seiner Tochter was angetan?«, wollte Theresa wissen, als wir in Richtung Innenstadt schlenderten. Ein kalter Wind ging, aber wir waren klug genug gewesen, uns warm anzuziehen. Theresa nutzte den Aufenthalt an der frischen Luft, um eine Zigarette zu rauchen. Nach einem kläglich gescheiterten Versuch, ihr Laster aufzugeben, versuchte sie inzwischen zumindest, ihren Tabakkonsum ein wenig einzuschränken.
»Momentan ist es zu früh, etwas zu denken.« Ich küsste sie mitten auf den Mund. »Und außerdem ist jetzt Wochenende.«
Der Himmel war grau, aber doch nicht so unfreundlich, wie es durch die beschlagenen Fenster der Bahn gewirkt hatte. Die Sonne war als blasse Scheibe zu erahnen, der Regen hatte schon wieder aufgehört.
Die Straßenbahn war doch eine gute Idee gewesen, stellten wir fest. An jeder Ecke staute sich der Einkaufsverkehr. Vor jeder Tiefgarage wartete eine lange Schlange. Schon von ferne hörten wir das »White-Christmas«-Gedudel vom Weihnachtsmarkt rund um den historischen Wasserturm. Wir sahen uns an und merkten, dass wir beide hungrig waren.
Auch der gemeinsame Besuch eines Weihnachtsmarkts war eine neue Erfahrung für uns. Neue Erfahrungen seien gut, fand Theresa, weil mit der Zeit alte Erinnerungen daraus wurden. Wir bummelten über den um diese Uhrzeit nur mäßig besuchten Markt. Lichter glitzerten gegen die matte Sonne an. Gebrannte Mandeln dufteten um die Wette mit Glühwein und Punsch. Theresa hatte Appetit auf Fischbrötchen. Fischbrötchen gab es nicht.
»Du bist aber nicht schwanger oder so was?«
Sie knuffte mir ihren durch den Mantel gut gepolsterten Ellbogen in die Seite und disponierte um auf Thüringer Bratwurst. Zu groben Bratwürsten passte im Advent ein herzhafter Glühwein, beschlossen wir.
Leicht angesäuselt spazierten wir später die Heidelberger Straße entlang in Richtung Zentrum. Obwohl es erst kurz nach zwei war, schien es schon wieder zu dunkeln.
»Hast du eigentlich irgendwas mit deinen Haaren gemacht?«, fragte ich.
»Meine Haare?« Theresa sah mich verständnislos an. »Was soll damit sein?«
»Sie kommen mir heller vor als sonst.«
Sie prustete los. »Ich habe sie aufhellen lassen, stimmt. Vor gut drei Monaten.« Sie schmiegte den aufgehellten Kopf an meine Schulter. »Wenn es dich tröstet, Egonchen ist es auch noch nicht aufgefallen.«
Einige Meter gingen wir schweigend.
»Eigentlich kann ich dieses ganze Weihnachtsgedöns ja nicht ausstehen«, gestand Theresa schließlich. »Aber mit dir zusammen ist es doch irgendwie schön.«
»Das ist wahre Liebe«, verkündete ich pathetisch. »Mit dem Menschen, den man wirklich liebt, macht sogar Kloputzen Spaß.«
»Na ja.« Sie klebte mir einen Kuss auf den Mund, der ein wenig nach mittelscharfem Senf und Gewürznelken schmeckte. »Das überlasse ich dann doch lieber meiner guten Tanja.«
Abwechselnd philosophierend und blödelnd zogen wir durch Kaufhäuser und ungezählte Boutiquen, und irgendwann erklärte Theresa, sie habe in der Aufregung des Stöberns leider vergessen, wonach sie eigentlich suchte. Außerdem machte ihr das Einkaufen plötzlich keinen Spaß mehr. Mir ging das Gedränge und Geschubse ohnehin auf die Nerven, und so tranken wir einen
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