Spatz mit Familienanschluß
1
»Das wird ein wunderbares Abendessen«, sagte Vater begeistert und las aus der Menükarte vor: »Jakobsmuscheln mit Käse überbacken...«
»Fein!« riefen die Mutter und die beiden Töchter Stefanie und Kathrin wie aus einem Mund.
Markus jedoch, den sie den »Spärlichen« nannten, weil er bei der Geburt nur 2 850 Gramm gewogen hatte, gab einen Unmutslaut von sich.
»Ist was?« fragte Vater.
»Ich mag keine Muscheln.«
»Fein, krieg ich zwei Portionen«, rief Stefanie, die den Beinamen die »Appetitreiche« trug.
Vater las weiter vor. Es gab verschiedene Arten von Spaghetti zur Auswahl, gebratenen Fisch, gegrilltes Kalbfleisch und Fruchtsalat oder Eistorte zum Dessert. »Eistorte!« Stefanie verdrehte genießerisch die Augen und befeuchtete mit der Zunge die Lippen. »Schmatz, Eistorte«, fuhr sie fort, »magst du die vielleicht auch nicht?«
»Das würde dir so passen«, brummte Markus.
Da kam Renato, der Kellner, um die Bestellung aufzunehmen.
Und jetzt gilt es, eine Menge nachzuholen. Zum Beispiel, wo steht der Tisch, an dem unsere fünf Personen sitzen? Antwort: Er steht auf der Terrasse des Hotels und Appartementhauses Residence an der Adria. Die Terrasse ist mit spiegelblanken Marmorplatten belegt. Neben den Tischen stehen einige Pflanzkübel mit Palmen. Und auf einem Palmwedel der Palme, die dem Tisch am nächsten steht, hockt ein Spatz. Der Tisch ist rechteckig, an den beiden Schmalseiten sitzen Vater und Mutter Bergmann, an der einen Breitseite die beiden Töchter, Stefanie, die älteste, Kathrin, die Zweitälteste, ihnen gegenüber Markus, der Jüngste. Ein Stuhl neben Markus ist leer. Renato, der Ober, wollte ihn wegstellen, aber Frau Bergmann bat, den Stuhl stehenzulassen. Sie legte ihr Handtäschchen darauf.
Stefanie neigte sich zu Vater. »Papilein«, begann sie zärtlich.
»Ja, was ist denn?«
»Gibst du Renato gleich das Trinkgeld? Du weißt, er bringt dann das Dessert oder sonstwas Gutes doppelt.« Der Spatz auf dem Palmwedel schüttelte den Kopf, denn er hatte bemerkt, daß Renato sein Trinkgeld längst bekommen hatte.
»Das werde ich mir noch überlegen«, sagte Vater zu Stefanie. »Du platzt uns am Ende noch.«
»Bin ich etwa dick?«
»Nein, aber wir können uns hier vor den anderen nicht blamieren.«
»Aber die Meeresluft macht so hungrig und das Salzwasser auch. Du weißt, ich schwimm furchtbar viel.«
»Ja, ich weiß, und deshalb werden wir auch einmal zu Renzo gehen müssen, damit du eine Riesenportion Fischsuppe bekommst.«
»Ah«, sagte Markus verächtlich, »mit Krebsen, Krabben und all dem furchtbaren Zeug. Bahh!« Er schüttelte sich.
»Hör auf, alles Essen mieszumachen«, fauchte Kathrin ihren Bruder an.
»Spaghetti carbonara mag ich auch nicht«, sagte Markus darauf.
Der Spatz auf dem Palmwedel konnte nur wieder den Kopf schütteln. Er fand jede Zubereitungsart von Spaghetti wunderbar. Da sollte einer die Menschen verstehen!
»Und warum magst du Spaghetti carbonara nicht?«
»Sie sind so weiß und gelb.«
»Ich werde Renato sagen, daß deine Spaghetti in der Küche rot, grün und blau lackiert werden müssen.«
»Laß die Spaghetti ruhig stehen«, schlug Stefanie, die Appetitreiche, vor. »Ich eß sie schon.«
Vater rieb sich die Nasenspitze, und das war das Zeichen, daß er sich insgeheim ärgerte. Es war ein Alarmzeichen, das Frau Bergmann und ihre Töchter bemerkten, ja sogar dem Spatzen auf dem Palmwedel fiel es auf. Nur Markus merkte es nicht »Und Fisch...« begann er, um zu sagen, daß er den auch nicht wollte, »... und Fisch mag ich — «
»Was ist mit Fisch?« fragte Vater scharf wie ein frischgeschliffenes Messer.
Nein, da konnte der Spatz unmöglich auf dem Palmblatt sitzen bleiben, er startete, um zunächst eine Runde über den Köpfen der Familie Bergmann zu drehen.
»Ein Spatz!« rief Kathrin. »Er hat fast mein Haar gestreift!«
»Kleiner, frecher Spatz«, sagte Mutter.
»Hoffentlich hat er mehr Hunger als Markus«, fügte Vater hinzu, und da der Spatz sich gerade auf der Lehne des nächsten freien Stuhles niederließ, auf den Stuhl neben Markus, waren sie alle begeistert, auch Markus. Markus liebte Tiere.
Der Spatz guckte nach links und rechts und dann zu den beiden Mädchen hinüber. Er hatte genug Menschenkenntnis, um zu wissen, daß ihm hier nichts Böses widerfahren würde.
Stefanie holte sich sofort eine Scheibe Brot aus dem Körbchen, brach ein Stückchen ab und warf es auf die Sitzfläche des leeren Stuhles. Der Spatz
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