Alkor - Tagebuch 1989
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T: Lange Geschichte geträumt, von einem Juden, der sich im Gebälk seines Hauses versteckt.
Die Natur draußen unter Frost-Nebel erstarrt.
Im Haus sind die Reinemachfrauen losgelassen. Das infernalische Geräusch des Staubsaugers. Es ist mir ein Rätsel, wieso das nicht leiser geht.
Entwicklung, Erruptionen, Tatsachen. Wochen voller Ereignisse, als ob das Jahrhundert kurz vorm nächsten Jahrtausend noch einmal Luft holt. Jeder Tag bringt Sensationen. Jetzt Rumänien. Wie schlau sich die Kommunisten überall an der Macht zu halten suchen.
Jetzt haben sie unter Bukarest ein Gängesystem entdeckt, verzweigt, an die 100 Kilometer lang. Auch die Villa des Titanen wurde gezeigt, die ist allerdings eher enttäuschend: goldene Bilderrahmen. Die Spar-Kur habe er den Rumänen verordnet, weil er selbst in Saus und Braus gelebt hat? Ein Bediensteter hat ausgesagt, Ceauçescu selbst habe das Schießen auf Passanten angeordnet.
Dubček, den Guten, haben sie wieder eingesetzt, nach 20 Jahren! Er wirkte eher bescheiden. Er sei nicht mehr ganz bei Groschen, heißt es.
Im«Spiegel»steht, daß jedem Rumänen pro Tag nur 300 Gramm Brot zustehen und 100 Gramm Butter im Monat. Es wird von zahlreichen, über das ganze Land verteilten Palästen, Villen und
streng abgeschirmten Feriendomizilen gesprochen. Die Tochter wurde mit Schmuck erwischt, als sie«außer Landes»gehen wollte.
Sechsstündige Reden hat er gehalten.
Schon als ich in Rumänien war, das muß in den 70ern gewesen sein, durfte in jedem Zimmer nur eine Glühbirne brennen. Die Boulevards waren finster. Die Rumänen selbst stritten ab, daß es«Versorgungsengpässe»gäbe.
Die«Ferienfreuden auf Rügen»der DDR-Funktionäre nehmen sich dem gegenüber bescheiden aus. Auch, wenn der«Spiegel»schreibt, die Bonzen hätten Vier-Zimmer-Suiten in den Hotels gehabt. Luxus fängt erst mit 1000 Paar Schuhen an. - Ich selbst besitze drei Paar. Und eines liegt eingefettet im Keller: Wanderschuhe, für den Fall aller Fälle, wenn ich mal wieder auf Wanderschaft gehen muß.
Die Katzen sind jetzt sehr zutraulich geworden. Die dunkle hat es mit mir: Die grunzt richtig, wenn sie mich sieht.
Der Munterhund hat es gern, wenn ich ihn morgens in seiner Ecke besuche. Er legt sich richtig zurecht für die Begrüßungszeremonie.
Nartum
Fr 29. Dezember 1989
Bild: Ceauçescu-Bruder im Keller erhängt/Marin C. (74) hing tot am Wasserrohr
ND: 250 000 freie Stellen, aber Zehntausende suchen andere Arbeit /Pressegespräch im Ministerium für Innere Angelegenheiten /Für Sicherheitspartnerschaft gegen Neofaschismus
Die Krähen sind wieder da. Das Haus wird umkrächzt von ihnen. In der Pappel hocken sie als schwarze Klumpen.«Kreienhoop»- es war eine glückliche Entscheidung, sich den Flurnamen zunutze zu machen. Ob die Fensterklopferin wieder dabei ist? Ich sitze mit eingepackten Füßen in der Bibliothek. Ich lese immer
mehrere Bücher gleichzeitig, sie liegen aufgeschlagen übereinander. Im Augenblick halte ich es noch mit Koeppen. Seine Romane sind allerdings unerträglich.
Spaziergang mit Hildegard. Wir freuen uns unseres Lebens. Gute Vorsätze fasse ich.
Nartum
Sa 30. Dezember 1989
Bild: Prosit Neujahr, Deutschland/Es wird ein wunderbares 1990/Ceauçescu/Tausende mit Röntgenstrahlen getötet
ND: Botschaft zum neuen Jahr / Mut zu verantwortungsbewußtem Handeln ist die erste Bürgerpflicht/Zwei Drittel der Bevölkerung für souveräne DDR
Viel Post wegen meines Weihnachtsartikels in der«Hörzu». Ich hätte ein Licht aufgesteckt und so in dieser Art. - Die Schwierigkeit, sich als Schriftsteller zur Zeit zu äußern. Ich merke deutlich, wie ich«veralte».
Ich war heute in Zeven und kaufte Glocken und ein Xylophon für die neue Kugelbahn, mit der ich mich im Winter beschäftigen werde.
Mitternacht. Bin wenig leistungsfähig, offenbar eine Grippe. Vorbereitung der Rostock-Tour. Schmidt aus Köln rief an, er hat nun auch das ZDF soweit, daß es«mitmacht». Vielleicht drei Stationen? Nartum - Rostock - Bautzen. Er glaubt, daß wir sogar ins Zuchthaus hineinkommen. Ich würde gern den Ausblick zeigen, den ich von der Pritsche aus hatte: den Blick auf«Somnia», das runde Fenster gegenüber.
Heute eine Sendung im ZDF über die politischen Sturzbäche des Jahres’89. Es störte mich, daß das schon Geschichte sein soll. Läßt die Kommentatoren weiser erscheinen als sie sind. Schenk meinte, es stünde zu befürchten (wieso eigentlich), daß die
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