Alkor - Tagebuch 1989

fliegen /100 000 Menschen gingen einfach durch
    ND: Das Brandenburger Tor ist offen - Symbol tiefer Veränderungen in Europa
     
    In der FAZ vom 20. 12.:
    Was sollte es heißen, daß von Stalin so viel (auf dem Parteitag), von Honecker und Stoph so wenig und von Ulbricht überhaupt nicht die Rede war? Wieso ereiferte man sich so über Korruptionsfälle, statt über Mauer, Schüsse, Schießbefehl und die vielen unwiederbringlich verlorenen Leben und Jahre? War die Schuld, die hier fast widerstandslos zugestanden wurde, ein Betriebsunfall? Oder war sie systemimmanent? Und wie ist es überhaupt zu verstehen, daß der schon im März 1953 verstorbene Stalin, dessen Verbrechen vom gänzlich unerwähnt gebliebenen Nikita S. Chruschtschow im Jahre 1956 ausführlich bloßgelegt worden waren, die Verantwortung
für die angeblich erst seit 20 Jahren entstandenen Deformationen der DDR trägt? Was besagt das über die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der DDR?
    Sehr richtig, kann ich da nur sagen.
    Grass ist offenbar völlig durchgedreht.«Kein Bedarf für Wiedervereinigung», sagt er, und er äußerte«Bewunderung für das Volk der DDR».
    Was meint er mit«Volk der DDR»? Was die Leute in Erfurt und Greifswald wohl dazu sagen. - Ich komme mir vor wie einer, der mühsam eine Reihe schwerbeladener, abgestellter Güterwaggons ins Rollen gebracht hat. Nun sehe ich ihnen zu, wie sie unter der Brücke durchfahren.
    Ich habe dem Gymnasium Zeven vier Freiplätze angeboten für das nächste Seminar: keinerlei Reaktion.
    Die Wildgänse ziehen wieder übers Haus, nachts kann man sie hören.
    Der Hühnerstall ist fertig. KF brachte noch eine Heizung darin an. Als er damit fertig war, gegen 5 Uhr, kam er zu mir, um mir das Arrangement zu zeigen, und als wir dann um die Ecke kamen, hatten die Hühner den Stall schon bezogen, freiwillig, vermutlich aus Neugier. Wir brauchten nur noch die Tür zu schließen. 3500 Mark hat der Stall gekostet. Das Ei zu 30 Pfennig gerechnet, könnten wir uns 11 665 Eier für das Geld kaufen. Der Haken ist nur, daß es so gute Eier überhaupt nicht zu kaufen gibt. Unsere Eier schmecken wie in alten Zeiten.

Nartum
So 24. Dezember 1989, Heiligabend
    Welt am Sonntag: Die Deutschen in Ost und West feiern ihr schönstes Weihnachtsfest
    Sonntag: Das«Nein»ist nicht abendfüllend. Mit dem Futurologen Robert Jungk sprachen Regina General und Jeanne Pachnicke

    Am Vormittag«Echolot», einen schon gelöschten Textblock aus Diskette doch noch gerettet. Dann langer Spaziergang unter dem Ohrwurm«Innsbruck, ich muß dich lassen». Ich sang die Melodie und hörte die Harmonien mit, und gleichzeitig erinnerte ich mich an die dunkle Kirchenchorzelle, an die«Kameraden», die wirklich Kameraden waren. Sind schon etliche tot. Ein herabhängender, nasser Zweig der großen Lärche wischte mir übers Gesicht. Kurzer Anfall von Jähzorn.
    Ich hatte Thomas-Mann-Tagebücher bestellt; sind leider nicht gekommen. Das wäre die rechte Lektüre über Weihnachten gewesen.
    15 Uhr. - Koeppen:«Nach Rußland und anderswohin». Das Buch ist 1958 gedruckt, das Exemplar noch ungelesen, 30 DM hat’s gekostet. Und Koeppen ist tot. Die Toten beschenken uns. Er schreibt über einen Besuch bei El Greco in Toledo:
    Das Haus des Malers ist klein. Es ist schön. Es ist geheimnisvoll. Winzige Zimmer, fast wie ein Puppenheim. Wenn er aus dem Fenster blickte, sah er das heilige Land. Im Sommer stand alles wie in Glut. In seinen Räumen glühte nur er. Es berührt seltsam, wenn man hier erfährt, daß er (El Greco) Frau und Kinder hatte. Am Abend saß er mit ihnen vielleicht im kleinen Lustgarten mit Brünnlein, Säulen und bunten Keramiken. Unter dem Garten und unter dem Haus sind Gewölbe. Es sollen geheime Verliese gewesen sein. Wer mag sich hier versteckt haben? Wer fürchtete wen?
    Diese Beschreibung ist übertragbar.
     
    23 Uhr. Den Heiligabend gereizt überstanden. Ich kann nichts mehr ab.
    Bekam von Paeschke kundig ausgesuchte Geschenke, das«Echolot»betreffend. Ansonsten kriegte ich vom Verlag, wohl aus praktischen Erwägungen, vorwiegend Bertelsmann-Erzeugnisse. Werbegeschenke von anderen Verlagen oder Institutionen haben gänzlich aufgehört. Die Kinder schenkten mir den schweren Kreuzer«Eugen», zu den beiden Sowtschick-Schlachtschiffen,«Hundstage»betreffend. Sofort dachte ich daran, mir sämtliche an dem Unternehmen beteiligten Schiffe zu besorgen und den
«Durchbruch»durch den Kanal in einem Modell nachzustellen. Wenn ich es schon