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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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DDR uns«anheimfalle». Und so in diesem Stil.
    So wie es früher Reklameanzeigen für Abmagerungskuren gab:
Vorher-nachher …, so müßte man die Kommentatoren mit dem Quatsch konfrontieren, den sie von Zeit zu Zeit von sich geben.

Nartum
So 31. Dezember 1989, Silvester
    Welt am Sonntag: Bukarest bestätigt: 60 000 Tote bei Revolution /Flughafen von Bukarest wieder offen/Erste Einzelheiten über Flucht des Ehepaares Ceauçescu
    Sonntag: Panische Angst vor«Hist. Mat». Zu Geschichtsbildern der SED. Von Thomas Marxhausen
     
    Die leere Zeit in Bautzen, das Warten und Herumlungern erzeugt heute in mir eine schwer zu ertragende Unrast. Wenn ich lese, dann schaue ich zwischendurch immer wieder auf die Uhr: Wie lange ich schon lese; jede Reise beende ich vorzeitig, und wenn ich fernsehe, schalte ich aus, sobald ich jemanden kommen höre. Sie sollen nicht denken, was ich weiß: daß ich Zeit verschwende, die nicht mir gehört.
    Am Abend saßen wir zusammen, hörten Thomas Mann«Tonio Kröger»lesen, die Hunde rechts und links. Später sahen wir die Jubel-Übertragung aus Berlin mit den saudummen Kommentaren von Engert. Anstatt die Bilder wirken zu lassen, fragte er die Leute, die um ihn rumhüpften, was sie jetzt empfinden? Ich habe die Sendung aufgenommen. Sie werde später wohl«anstelle von Moser und Rühmann»abgespielt werden, meint Hildegard. - Die Bilder waren von einer gewissen Schönheit, das Brandenburger Tor mit den krabbelnden Menschen drauf, Hunderttausende im Scheinwerferlicht der TV-Stationen, Feuerwerk darüber hinzischend, Fahnenschwenken, Freude. Ja, wer hätte das gedacht. Gegen 12 Uhr ging ich zu den Schafen und legte ihnen die Hand auf den Kopf, dann sahen wir dem Nartumer Feuerwerk zu, an dem ich mich mit einem Bengalischen Streichholz beteiligte. Ich dachte, man müßte eine derartige Rakete loslassen, daß das ganze Dorf in Klump fällt.

    Was für ein Jahr! Im Jahr des 100. Geburtstags von Hitler eine reguläre bürgerliche Revolution! Und wir waren dabei! - Mit Augen und Ohren:«Wahnsinn!», wie die Leute sagen.
    Aber irgend etwas war nicht in Ordnung mit Leipzig/Einundleipzig:«Es fehlte das Blut », wie S. sagte. Kein Stasi-Mann wurde an einer Laterne aufgehängt, und die«Staatsmacht»gab nicht einen einzigen Schuß ab. Die bürgerliche Revolution wurde nicht besiegelt.
    Am 17. Juni’53 fanden 116 SED-Funktionäre den Tod und 267 Aufständische. Hat auch keine Spuren hinterlassen. Ist auch nicht zum Fanal geworden. Wer kennt die Namen?

    Bild 1
    Das verflossene Jahr kann nicht gerade als ein Marx-Jahr bezeichnet werden. Aber immerhin: Auch Marx war für die Einheit. In einem geeinten Deutschland könne man besser Revolution machen, hat er gesagt. Sonst müßte man sie in jedem Land gesondert anzetteln, und das wäre schwer zu organisieren. Übrigens war Marx - wie Tolstoi -«Sitzriese», er war klein von Wuchs. Die Kleinwüchsigen sind es, die Geschichte machen. Hitler, Napoleon.

Quellenverzeichnis
    Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften, Band 4: Minima Moralia. © 1969 Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M.«In seinem Text richtet der Schriftsteller häuslich sich ein …»; Alexijewitsch, Swetlana: Zinkjungen. Afghanistan und die Folgen. 1992 S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. © Agentur Eggers und Landwehr, Berlin; Baumgart, Reinhard: Der Löwengarten. Roman © 1961 Walter Verlag, Olten u. Freiburg i. Br.; Berger, Rupert: Kleines liturgisches Lexikon. © 1987 Verlag Herder, Freiburg i. Br.; Bieritz, Karl-Heinrich: Das Kirchenjahr. Feste, Gedenk- und Feiertage in Geschichte und Gegenwart. © 1987 C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung, München; Brecht, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 12. © 1988 Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M.,«Mailied der Kinder»; Camus, Albert: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. © 1950 Rowohlt Verlag, Reinbek b. Hamburg; Canetti, Elias: Die Provinz des Menschen. Aufzeichnungen 1942-1972. © 1973 Carl Hanser Verlag, München u. Wien; Conquest, Robert: Ernte des Todes. Stalins Holocaust in der Ukraine 1929-1933. Aus dem Englischen v. Enno von Löwenstern. 1988 Verlag Langen Müller, München © Agence Hoffman, München; Ezra Pound Lesebuch. Dichtung und Prosa. Hrsg. u. mit einem biogr. Essay von Eva Hesse. © 1953 Verlag Die Arche, Zürich (Das Zitat ist nicht belegt.); Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen. Zusammengestellt v. Wilhelm Bode. Neu hrsg. v. Regine Ott u. Paul-Gerhard Wenzlaff. © 1979

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