Alle Menschen sind sterblich
aber auch keinen Mut zum Sterben finden können.
«Es gibt nichts mehr zu erzählen», sagte Fosca. «Jeden Tag ging die Sonne wieder auf und jeden Tag wieder unter. Ich bin in die Anstalt gegangen und wieder herausgekommen, es hat Kriege gegeben: nach dem Krieg Frieden, und dann wieder einen neuen Krieg. Alle Tage werden Menschen geboren, und andere Menschen sterben.»
«Ach, hören Sie doch auf», sagte sie.
Sie preßte ihm die Hand auf den Mund. Die Angst war ihrjetzt aus der Kehle ins Herz hinabgestiegen und von da aus in den Leib. Sie hätte am liebsten geschrien. Nach einer Weile fragte sie: «Was werden Sie nun tun?»
Fosca blickte rund um sich her, seine Züge verfielen: «Ich weiß es nicht.»
«Schlafen?» fragte sie.
«Nein. Ich kann nicht mehr schlafen.» Er dämpfte seine Stimme. «Ich leide an Alpdruck», sagte er.
«Sie? An Alpdruck?»
«Ich träume, es gibt keine Menschen mehr. Sie sind alle tot. Die Erde ist weiß und starr. Es gibt noch den Mond am Himmel, er scheint auf die weiße Erde. Ich bin allein mit der Maus.»
Er sprach jetzt ganz leise, sein Blick war der eines alten Mannes geworden.
«Was für eine Maus?»
«Die kleine Maus, die verdammt ist durch mich. Es gibt keinen Menschen mehr, doch sie muß weitertrotten in alle Ewigkeit. Ich habe sie dazu verdammt. Das ist mein größtes Verbrechen.»
«Sie weiß es nicht», sagte Regine.
«Gerade darum. Sie weiß es nicht und trottet ewig umher. Eines Tages sind nur noch sie und ich auf der Erdoberfläche.»
«Und unter der Erde ich», setzte Regine hinzu.
Sie preßte die Lippen zusammen. Der Schrei stieg aus ihrem Leib zu ihrem Herzen auf, vom Herzen in die Kehle. In ihrem Kopf flimmerte ein unerträglich strahlendes Licht, das blinder machte als Finsternis. Aber sie durfte nicht schreien; und dennoch hatte sie das Gefühl, daß etwas geschehen würde, wenn sie nur schreien könnte; vielleicht würde dann diese quälende Spannung ein Ende finden und das Leuchten erlöschen.
«Ich werde jetzt gehen», erklärte er.
«Wohin gehen Sie?»
«Es ist ganz gleich, wohin.»
«Warum gehen Sie dann?»
«Ich spüre in meinen Beinen eine Lust nach Bewegung», sagte er. «So etwas muß man wahrnehmen.»
Er ging zur Tür, und sie folgte ihm.
«Und ich?» sagte sie.
«Oh! Sie!» sagte er. Er zuckte die Achseln. «Das geht vorbei.»
Er schritt die beiden Stufen vor der Tür hinab und eilte mit großen Schritten nach der Landstraße zu, die aus dem Dorf führte; er ging sehr schnell, als erwarte ihn etwas dahinten am Horizont: eine Welt, die weiß und nackt unter einer Eisdecke lag, ohne Menschen, ohne Leben. Sie stieg nach ihm die Stufen hinab: Soll er doch gehen, dachte sie. Soll er für immer verschwinden. Sie sah ihn gehen, als nähme er den bösen Zauber mit sich fort, der ihr Wesen zerstörte; er bog um die Ecke und verschwand. Sie machte noch einen Schritt, dann blieb sie stehen wie gebannt; er war verschwunden, doch sie blieb als das zurück, wozu er sie gemacht hatte: ein Grashalm, eine Eintagsfliege, eine Ameise, ein sich kräuselnder Schaum. Sie blickte um sich her: vielleicht gab es einen Ausweg; leise wie Wimpernschlag streifte etwas ihr Herz: es war keine Hoffnung geworden und war schon wieder fort; sie war zu erschöpft. Sie preßte die Hände fest gegen den Mund und neigte ihren Kopf; sie fühlte sich besiegt; mit Grauen, mit tiefem Schaudern fand sie sich mit der Wandlung ab: Eintagsfliege, Schaumflocke, Ameise bis zum Tode. Das ist erst der Anfang, dachte sie und blieb unbeweglich stehen, als wäre es möglich, die Zeit zu überlisten, sie aufzuhalten in ihrem Lauf. Doch ihre Hände erlahmten auf ihren verzerrten Lippen.
Als die Uhr vom Turm schlug, entrang sich ihr der erste Schrei.
Informationen zum Buch
Mit Fosca, dem ungewöhnlichen Helden des Romans, dem auf geheimnisvolle Weise Unsterblichkeit verliehen ist, erleben wir sechs Jahrhunderte europäischer Geschichte in blutvollen Gestalten und abenteuerlichen Ereignissen. Foscas wechselvolle Schicksale lassen in ihm die tragische Erkenntnis reifen, daß die Sehnsüchte der Menschen ewig unerfüllbar und ihre Hoffnungen immer vergeblich sind.
Informationen zur Autorin
Simone de Beauvoir, geboren am 9. Januar 1908 in Paris, gilt als führende Repräsentantin des französischen Existentialismus in der Literatur und als eine der wichtigsten Vordenkerinnen der europäischen Frauenbewegung. Noch während ihres Philosophie-Studiums an der Sorbonne lernte sie Jean-Paul
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