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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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sich die Ohren verstopft, um dies wilde Gebrüll nicht zu hören; sie hatte immer von einer durch Vernunft geregelten Revolution geträumt. «Marianne.» Ich versuchte zu denken: heute würde sie anders sein, sie würde das Volk besser kennen, sie würde es lieben. Ich blickte Laure an; ohne Hut, mit durchnäßtem Haar stand sie in ihren Schal gewickelt da, und ihre Augen leuchteten; das war Laure, nicht Marianne. Um hier neben mir zu stehen, hätteMarianne aufhören müssen, sie selber zu sein; sie war versteinert eingebettet in die Vergangenheit, in ihre eigene Zeit; ich konnte sie nicht erstehen lassen, nicht einmal ihr Bild.
    Ich hob den Blick zum mondlosen Himmel auf, ich sah die beleuchteten Häuserfronten, die Bäume, und um mich her diese Menge von Menschen, die ihresgleichen waren. Ich wußte, daß das letzte Band, das mich an diese Welt noch hatte fesseln können, soeben zerrissen war: dies war nicht mehr Mariannes Welt; ich konnte sie nicht mehr mit ihren Augen betrachten; ihr Blick war nun völlig erloschen; selbst in meinem Herzen waren die Schläge ihres Herzens nunmehr zum Schweigen gekommen. «Du wirst mich vergessen.» Nicht ich hatte sie vergessen. Sie war herausgeglitten aus der Welt, und ich, der ich für immer in dieser Welt bleiben mußte, war verlassen worden von ihr. Keine Spur unter dem Himmel, auf dem Wasser oder der Erde, in keinem Herzen eine Spur; keine Leere, keine Abwesenheit, alles war ausgefüllt. Der gleiche Schaum und doch immer ein anderer. Es fehlte kein Tropfen daran.
    Sie zogen weiter; sie waren schon nahe an der Bastille, und der Zug war jetzt ein mächtig brandender Strom geworden; von allen Seiten kamen sie, aus der Tiefe des Boulevards, aus der Tiefe der Zeiten; durch die Straßen von Carmona, die Straßen von Gent, von Valladolid, von Münster, auf den Straßen Deutschlands, Flanderns, Italiens, Frankreichs, zu Fuß, zu Pferde, in Waffenröcken, in Blusen, in Leinwandkleidern oder von Panzerhemden geschützt zogen sie alle dahin, Bauern, Arbeiter, Bürger, Landstreicher, getrieben von Hoffnung, von Zorn, von Haß, von Begeisterung, die Augen auf das Paradies gerichtet, das in der Zukunft lag; sie kamen herangezogen und ließen hinter sich eine Spur aus Schweiß und Blut, ihre Füße wurden zerrissen von den Steinen am Weg, sie zogen Schritt für Schritt weiter,und bei jedem Schritt wich der Horizont weiter von ihnen fort, der Horizont, an dem jeden Abend die Sonne unterging, als ob sie strandete; morgen, in hundert Jahren, in zwanzig Jahrhunderten würden sie immer noch schreiten, immer der gleiche Schaum und immer ein anderer, und der Horizont würde vor ihnen zurückweichen, Tag für Tag, immer und ewig, während sie Jahrhunderte über Jahrhunderte weitermarschieren würden, so wie sie seit Jahrhunderten dahergezogen kamen. Am Abend aber warf ich mein Gepäck auf den vereisten Boden, ich machte ein Feuer an, und ich streckte mich aus; ich streckte mich aus, um am folgenden Tag wieder weiterzuwandern. So machten auch sie manchmal halt. Auf dem Platz vor dem Hôtel de Ville hatten sie haltgemacht, sie schrien und feuerten Schüsse in die Luft, eine Frau sang, auf der Lafette einer Kanone stehend, die
‹Marseillaise›
ab: «Es lebe die Republik!» Der König hatte abgedankt, sie glaubten nunmehr den Sieg in Händen zu haben, sie hielten Schalen mit Wein in der Hand, sie lachten, Caterina lächelte, Malatesta lachte, die Mauern von Pergola stürzten unter dem Jubel der Belagerer ein, die Kuppeln von Florenz glitzerten in der Sonne, die Glocken des Doms läuteten Sieg. Carmona war gerettet, es war Friede. Armand trat auf den Balkon; auf ein großes Schriftband hatten sie in Riesenbuchstaben die Worte «Es lebe die Republik!» gemalt! Unter dem Fenster entfalteten sie es und warfen mit vollen Händen Flugblätter unter die Menge, auf denen Worte des Glaubens und der Hoffnung standen; die Menge jauchzte: «Es lebe die Republik!» – «Es lebe Carmona!» Und dann war Carmona verloren, es war wieder Krieg, wir kehrten Florenz den Rücken, in das wir nicht hatten eindringen können, wir verließen mit dumpfem Herzen das preisgegebene Pergola, die Bauern von Ingolstadt wanden sich in Qualen in den gleichen Feuern, die sie entzündet hatten   … Ich fühlte Armands Hand auf meiner Schulter ruhen.
    «Ich weiß, was Sie denken», sagte er.
    Einen Augenblick lang blieben wir Seite an Seite stehen und blickten in die Menge, die vor Begeisterung tobte. Mit ihren Tomahawks trafen sie

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