Alle müssen sterben - Thriller (German Edition)
loslassen und wurde über den Rand des Containers geschleudert.
Zwanzig Meter unter Braun hob gerade ein Staplerfahrer eine Palette Eisenrohre aus einem geöffneten Container, um sie auf einen bereitstehenden Lkw zu verladen. Draußen auf der Donau fuhr ein hell erleuchtetes Frachtschiff mit exakt auf dem Verladedeck ausgerichteten nagelneuen weißen BMWs durch die Nacht. An einem Container unter Braun hatte sich ein eiserner Türriegel geöffnet, schlug stakkatoartig im Regen gegen die gewellte Stahlwand und erinnerte Braun an die Anfeuerungsrhythmen der Zuschauer, wenn man beim Marathon in die Zielgerade einbiegt. Ausgerechnet das ging ihm durch den Kopf, und nicht etwa das letzte nächtliche Telefonat mit Kim, als er in die große Leere stürzte.
4. Die Schatten der Vergangenheit
Um vier Uhr morgens schrillte das Telefon im Büro von Elena Kafka und unterbrach das monotone Geräusch, das der Gummiball verursachte, den Elena Kafka schon seit Stunden an die Wand drosch. Langsam setzte sie sich in den hohen gepolsterten Ledersessel, wippte mehrmals vor und zurück, ehe sie sich aufrichtete und zum Hörer griff.
„Was gibt’s?“, bellte sie in die Leitung, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten, und langte gleichzeitig nach einem frischen Nikotinkaugummi in ihrer Schreibtischlade.
„Ach, du bist es. Dachte mir schon, dass du dich meldest. Woher hast du meine Nummer?“ Gedankenverloren steckte sie den Nikotinkaugummi in ihren Mund, während sie zuhörte. Merkwürdig, dachte sie, das Nikotin beruhigt nicht, sondern schlägt nur auf den Magen.
„Natürlich, du und deine Beziehungen“, kommentierte sie mechanisch die Antwort, ohne mit dem Kauen aufzuhören. „Deine Stimme zittert so, bist du etwa alt geworden?“ Sie lächelte zynisch, doch als der Anrufer stockend den Grund seines Anrufs nannte, erstarrte sie für einen Moment.
„Tim ist tot? Er ist ermordet worden?“ Elena Kafka spuckte den Nikotinkaugummi in den Papierkorb, der unter ihrem Schreibtisch stand, und setzte sich aufrecht in ihren Lederstuhl. „Was ist passiert?“
Während sie zuhörte, riss sie eine Schreibtischlade auf und holte ein kleines schwarzes Notizbuch hervor. Der gewachste Leineneinband war an den Ecken abgewetzt und als sie das Buch aufschlug, waren die Kaffeeringe und Brandflecke nicht zu übersehen. Sie klemmte sich den Hörer zwischen Wange und Schulter und begann hektisch das Notizbuch durchzublättern. Es waren Tagebucheintragungen, die im Zeitraffer ein Leben dokumentierten, dann plötzlich abrissen. „Back in Linz!“ war quer über die letzte Seite geschrieben worden.
Elena Kafka räusperte sich, als sie bemerkte, dass der Anrufer verstummt war. Sie hörte nur ein verhaltenes Schluchzen, dann hatte sich der Anrufer wieder gefasst und seinen gewohnten befehlsmäßigen Ton angeschlagen. Schweigend hörte Elena Kafka zu, runzelte die Stirn, wollte etwas sagen, wurde aber von dem Anrufer unterbrochen. Mit resignierter Miene wartete sie, bis der Anrufer geendet hatte.
„Ich kümmere mich persönlich darum. Mein bester Mann ist in zwei Stunden vor Ort. Du kannst dich auf mich verlassen! Woher ...“
Doch der Anrufer hatte bereits aufgelegt und das mechanische Tuten des Telefons vermischte sich mit dem gleichmäßigen Trommeln des Regens an die Fenster ihres Büros.
Wie betäubt starrte Elena Kafka auf den Schreibtisch, auf dem der Telefonhörer und das schwarze Notizbuch lagen. Mit zitternden Fingern griff sich danach, schlug eine neue leere Seite auf und schrieb: „Es ist vier Uhr morgens, Ende Juli und es regnet ...“ Dann brach sie in Tränen aus und weinte, so wie sie zuletzt auf dem schmucklosen Friedhof in Washington geweint hatte.
Als es nichts mehr zu weinen gab und ihre Augen klein und verschwollen waren, legte sie langsam den Telefonhörer auf, griff automatisch nach der Blisterverpackung, um sich einen neuen Nikotinkaugummi herauszudrücken, aber die Verpackung war leer. Nervös fischte sie die zerkaute Kaugummikugel wieder aus dem Papierkorb, ließ sie in der Mundhöhle kreisen und versuchte nicht an das Nikotin, sondern an das Telefonat zu denken.
Mit bleischweren Gliedern stand sie auf, bemerkte den Gummiball, den sie auf dem Teppich liegen gelassen hatte, und hob ihn schnell auf. Durch die großen Fenster ihres Büros hatte sie einen Panoramablick über die Stadt, die um diese Zeit ausgestorben und leer wirkte. Nur vereinzelte Autos fuhren, glänzende Wasserfontänen wie Feuerschweife hinter
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