Alle muessen sterben
sich aufwirbelnd, über die Nibelungenbrücke, die sich über die Donau spannte und die beiden Stadtteile von Linz miteinander verband. In der Glasscheibe spiegelte sich ihr Gesicht wider, das durch die konsequente Diät noch immer straff war und durch die pechschwarzen, streng zurückgebundenen Haare noch härter wirkte. Elena Kafka war neunundvierzig Jahre alt, sah aber aus wie Ende dreißig und fühlte sich im Augenblick wie sechzig.
Seit neun Monaten war sie jetzt in dieser Stadt und der Kulturschock hätte nicht größer sein können. Aus der pulsierenden Millionenstadt Washington, dem Zentrum der Macht, hierher in das beschauliche Linz. Aus der Hauptstadt des Verbrechens in eine Stadt, in der es nur wenige echte Verbrechen gab. Aus einer Stadt, in der sie den Tod kennengelernt hatte, in eine Stadt, in der sie wieder das Leben spüren wollte.
Doch das Verbrechen hatte sich wie ein Bluthund auf ihre Fährte geheftet und sie bis hierher verfolgt, um sie noch härter zu treffen. In ihrer Wohnung in Washington hatte sie gedacht, es könne nicht schlimmer werden, dass sie bereits die Hölle gesehen hätte, aber das war ein Irrtum gewesen. Erst jetzt stand sie am Tor der Hölle und diese Hölle war die Erinnerung. Wie meistens, wenn sie in diesen schwarzen Abgrund stürzte, hatte sie zwei Exit-Szenarien: Im Fitnesscenter bis zur Erschöpfung zu trainieren oder die verschreibungspflichtigen Medikamente, die ihre Stimmung innerhalb weniger Minuten aufhellten. Trainieren war um diese Zeit nicht möglich, deshalb griff sie zu der anderen Möglichkeit ...
Elena Kafkas Computer signalisierte eine einlangende Mail und als sie den Anhang öffnete, sah sie ein verschwommenes Handyfoto. Das nächste Foto war deutlicher. Der Anrufer musste wirklich gute Beziehungen haben, wie wäre er sonst so schnell an diese Bilder gelangt. Sie straffte ihren Oberkörper, kontrollierte, ob ihre Haare noch streng nach hinten gebunden waren, und druckte die Fotos aus. Sie hatte dem Anrufer ihr Wort gegeben, dass sie den Fall persönlich übernehmen würde. Und sie stand zu ihrem Wort, das war sie ihm schuldig, das war sie sich selbst schuldig.
Instanzen und Zuständigkeiten interessierten sie nicht. Jetzt hatte sie die Möglichkeit, endlich ihrer Karriere den entscheidenden Kick zu geben, endlich mit der Vergangenheit abzuschließen und mit dem Leben zu beginnen. Sie knallte den Gummiball gegen die Wand, er prallte blitzschnell zurück, wie ein Geschoss, wie eine Kugel. Merkwürdig, dass sie plötzlich diese Assoziation mit der Kugel hatte, jener Kugel, die ihr Leben so unwiderruflich auf den Kopf gestellt hatte, der Kugel, die eigentlich für sie bestimmt gewesen war ...
Elena Kafka hielt inne und spürte, dass nun der Augenblick gekommen war, mit den Lügen aufzuhören, dass sie sich nun mit aller Konsequenz eingestehen musste, dass diese Kugel, die in der schicken Wohnung in Washington durch die Nacht gepeitscht war, ihr Leben zerstört hatte.
Doch weiter wollte sie nicht denken und vor lauter Nervosität musste sie laut auflachen und das Geräusch ihrer rauen Stimme hallte in dem stillen Büro wie ein Donnerschlag. Dann setzte sie sich auf eine Ecke ihres Schreibtisches, strich sich den engen Rock glatt, griff zum Telefonhörer und wählte eine Nummer. Während sie das monotone Tuten in eine Art Trance versetzte und sie darauf wartete, dass endlich abgehoben wurde, dachte sie an den Mann, mit dem sie soeben telefoniert hatte, und stellte sich vor, wie ihr Leben anders verlaufen wäre, wenn sie damals bei ihm geblieben wäre. Aber es war müßig, über vergeudete Chancen nachzugrübeln, jetzt ging es nur darum, das Leben wieder in den Griff zu bekommen.
„Na endlich! Du hast um zwei Uhr nicht auf meinen Anruf reagiert! Ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht!“, hörte sie plötzlich übergangslos eine Stimme verschlafen und genervt aus dem Lautsprecher, als abgehoben wurde. Sie holte tief Luft und bellte schneidend in den Hörer:
„Hier spricht Elena Kafka, die Polizeipräsidentin. Ich erwarte Sie in fünfzehn Minuten in meinem Büro!“
5. Ein Treffen in der Nacht
Tony Braun knallte das Telefon auf den Couchtisch und wankte mit schmerzenden Gliedern unter die Dusche. Die rechte Schulter war bereits blau angelaufen und ließ sich nur noch mit zusammengebissenen Zähnen heben. Ein klarer Fall für den Arzt, hätte sein Partner Inspektor Dominik Gruber gesagt, aber Braun hatte keine Zeit für Ärzte, genauso wie er keine Zeit
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