Verstehen Sie das, Herr Schmidt? (German Edition)
Vorwort
Wie ist der Satz »Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen« überhaupt in die Welt gekommen?
Es war eine pampige Antwort auf eine dusselige Frage.
Neuerdings hat er immer wieder selbst eine Frage. Er stellt sie, wenn am Freitagmittag die Politikkonferenz der ZEIT zu Ende ist. Die meistens Kollegen haben dann schon den engen Raum verlassen, er selber wartet, bis ihm jemand hilft, seinen Rollstuhl durch die Tür zu bewegen. Er fragt also: »Glauben Sie, dass ich eben Unsinn geredet habe?«
Man ist versucht, dies als Koketterie abzutun, denn auf den Gedanken wäre man gar nicht gekommen: Helmut Schmidt wirkte eben noch wach und engagiert wie eh und je. Dann aber ist man doch angerührt, weil man merkt, wie wichtig ihm die Antwort ist. Vielleicht auch, weil man an einige ältere Freunde oder an die eigenen Eltern denkt, die jünger sind – und trotzdem gelegentlich so wirken, als hätten sie schon erste Aussetzer.
Helmut Schmidt aber scheint gegen die Vergreisung und andere Plagen des Alters auf wundersame Weise gewappnet zu sein. Er hat lange schon ein Gegenmittel gefunden, von dem er so gut wie keinen Tag lassen kann. Nein, es sind nicht die vielen Reyno-Zigaretten, die er immer noch unverdrossen raucht, sogar auf einem SPD-Parteitag, auf dem für alle anderen ein striktes Rauchverbot gilt. Es ist ein Stoff, den er noch stärker braucht als Nikotin: Arbeit. »Wenn ich damit aufhöre«, hat er einmal nach einem unserer Gespräche gesagt, »dann gehe ich ein.«
Dem Wirkstoff Arbeit ist mit Sicherheit auch diese Gesprächsreihe zu verdanken, die es eigentlich gar nicht geben sollte. Was hat der Altkanzler und ZEIT -Herausgeber nicht alles vorgetragen, um sich der Pflicht zum wöchentlichen Interview »Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt« endlich zu entledigen: zu anstrengend, zu kurz in der Form, zu unterhaltsam! Im Januar 2009 stellten wir die beliebte Kolumne im ZEITmagazin tatsächlich ein. Aber schon beim ersten Zusammentreffen danach fragte Helmut Schmidt völlig überraschend: »Was können wir denn als nächstes machen?«
So enstand die Idee zu einer neuen Gesprächsreihe unter dem Titel »Verstehen Sie das, Herr Schmidt?«, mit Betonung auf dem Sie. Dieses Format kam ihm insofern entgegen, als die einzelnen Interviews um einiges länger sein und nicht mehr wöchentlich im Magazin erscheinen sollten. Für uns bestand der besondere Reiz darin, dass Helmut Schmidt sich damit auf etwas einließ, das er sonst zu vermeiden versucht: das Räsonieren und Kommentieren aktueller Ereignisse. So sind die auf den folgenden Seiten abgedruckten 22 Gespräche auch ein spannendes Abbild von drei Jahren Zeitgeschichte. Sie umfassen hochdramatische weltpolitische Ereignisse – den Zusammenbruch der Finanzmärkte zum Beispiel, den Volksaufstand in mehreren arabischen Ländern oder den GAU in Fukushima und den darauffolgenden Beschluss der schwarz-gelben Regierung zum Atomausstieg in Deutschland.
In diese Zeit fiel aber auch die größte persönliche Katastrophe für Helmut Schmidt: der Tod von Loki in der Nacht zum 21. Oktober 2010. 68 Jahre war er mit ihr verheiratet, kennengelernt hatte er sie, als sie beide zehn Jahre alt waren und in dieselbe Klasse an der Lichtwarkschule in Hamburg-Winterhude kamen. Nie zuvor haben sich die Menschen, die ihm nahe sind, so viele Sorgen um Helmut Schmidt gemacht wie in den Wochen des Sterbens seiner Frau. Der Trauergottesdienst im Hamburger Michel fand am 1. November statt, das Fernsehen übertrug die Zeremonie, und die Kameras sparten keine Einstellung aus. Sie hielten auch auf das schmerzverzerrte Gesicht von Helmut Schmidt, dem Alleingebliebenen. Es war kaum auszuhalten.
Danach gab es einen kleinen Empfang im Hotel Vier Jahreszeiten, an dem die Familie Schmidt und enge Freunde teilnahmen. Auch der Schriftsteller Siegfried Lenz war gekommen, auch er körperlich vom Alter gezeichnet. Irgendwann sagte Schmidt zu Lenz: »Siggi, eine Runde haben wir noch!« Helmut Schmidt machte sich wieder an die Arbeit. Schon kurz darauf fand das nächste Gespräch für das ZEITmagazin statt (siehe diese Seite ).
Man kann leicht den Eindruck gewinnen, er sei ein schwieriger Gesprächspartner, weil er fordernd und abweisend sein kann. Tatsächlich kann niemand so nervenaufreibend schweigen wie Helmut Schmidt, und wenn er einer Frage sein apodiktisches »Nö« entgegenhält, ist das für sein Gegenüber so, als würde er eiligen Schrittes gegen eine Glastür laufen. Aber im Großen und Ganzen
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