Alle sieben Wellen
mich »an deinem Äußeren interessiert« zeigen? Warum soll ich dir »Du gefällst mir« ins Gesicht sagen? Warum soll ich dir näher als bis zur Mitte eines ausgeleuchteten Kaffeehaustisches kommen? Du kannst doch nicht wollen, dass ich mich nun auch noch »körperlich« (oder libidinös, wie sich der Alkohol ausdrückt) in dich verliebe! Was hättest du davon? Das begreife ich nicht, das musst du mir erklären. Überhaupt musst du mir einiges erklären, meine Liebe. Beim Kaffee bist du mir wieder einmal elegant ausgewichen. Seit Monaten, ja seit Boston drückst du dich um dieses Thema herum. Aber jetzt will ich es wissen. Ja, ich will es wirklich wissen. Ausrufezeichen, Ausrufezeichen, Ausrufezeichen, Ausrufezeichen.
Hier mein Fragenkatalog eins: Wie steht es um deine Beziehung? Wie geht es dir mit Bernhard? Was machen die Kinder? Wie lebst du? Was macht dein Leben aus? Fragenkatalog zwei: Wieso hast du nach Boston wieder Kontakt zu mir aufgenommen? Wie denkst du heute über die Umstände, die zu unserer E-Mail-Trennung geführt hatten? Wie konntest du Bernhard verzeihen? Wie konntest du mir verzeihen? Fragenkatalog drei: Was fehlt dir? Was kann ich für dich tun? Was willst dumit mir machen? Was soll ich für dich sein? Wie soll es mit uns weitergehen? Soll es mit uns weitergehen? Wohin? Verrate mir bitte: WOHIN? Lass dir mit den Antworten ruhig ein paar Tage Zeit, wenigstens davon haben wir alle der Welt. Schönen Abend, Leo.
Fünf Stunden später
Betreff: Ein- und Abdruck
Noch ein paar Worte zu meinem nicht vorhandenen oder nicht erkennbaren »Interesse an deinem Äußeren«, liebe Emmi. Richte deinen Ex- und zukünftigen Whiskeys bitte aus: »Du gefällst mir.« Das sage ich dir mit 0,0 Promille Alkohol im Blut. Es ist schön, dich zu sehen. Du bist wunderschön anzusehen. Und ich kann zum Glück jederzeit Einblick in dich nehmen. Ich habe nicht nur hundert Eindrücke von dir, ich habe auch einen Abdruck von dir. Ich habe einen Berührungspunkt in meiner Handinnenfläche. Ich kann dich darin beobachten. Ich kann dich sogar streicheln. Gute Nacht.
Drei Minuten später
RE:
Deine Frage: »Was kann ich für dich tun?«, hast du soeben selbst beantwortet. Streichle meinen Berührungspunkt. Lieber!
Eine Minute später
AW:
Das tue ich. Aber das tue ich nicht für dich, sondern für mich. Denn diesen Punkt kann eben nur ich fühlen, er gehört mir, Liebe!
50 Sekunden später
RE:
Irrtum, Lieber! Zu einem Berührungspunkt gehören immer zwei. 1.) Der berührt wird. 2.) Der berührt. Gute Nacht.
Drei Tage später
Betreff: Fragenkatalog eins
Fiona wird achtzehn. Nächstes Jahr ist sie mit der Schule fertig. Ich rede mit ihr nur noch Englisch und Französisch, damit sie es übt. Seither spricht sie überhaupt nicht mehr mit mir. Sie will Stewardess oder Konzertpianistin werden. Ich rate ihr zu einer Kombination: Klavierspielerin im Flugzeug, fliegende Pianistin, da wäre sie konkurrenzlos. Sie ist hübsch, schlank, mittelgroß, blond, hellhäutig, sommersprossig, wie ihre Mutter es war. Sie »geht« seit einem halben Jahr mit Gregor. Mit Gregor zu gehen bedeutet, dass jede Person männlichen oder weiblichen Geschlechts, mit der sie sich die Nächte um die Ohren schlägt, »Gregor« heißt. Offiziell verbringt sie jede Nacht bei ihm. Der Arme weiß und hat nur leider nichts davon. »Was macht ihr die ganze Zeit?«, frage ich. Da lächelt sie, so verrucht sie kann. »Sex« im angedeuteten Zustand ist noch immer die beste Erklärung für auskunftsunwillige Jugendliche. Es erklärt sich von selbst. Fiona muss kein Wort darüber verlieren. Sie muss nur ein paar sexualpädagogische Verhütungsmonologe über sich ergehen lassen.
Jonas ist vierzehn. Er ist noch ein Kind. Er ist sensibel und anhänglich. Ihm fehlt die Mutter, er braucht mich so sehr. Er hält die Familie zusammen, ganz fest, mit enormem Kraftaufwand. Die Energie fehlt ihm in der Schule. Er fragt mich alle paar Tage, ob ich seinen Vater noch lieb habe. Leo, du hast keine Ahnung, wie er mich dabei ansieht. Es gibt für ihn nichts Schöneres, als uns beide glücklich zu sehen, und er ist unser beider Mittelpunkt. Manchmal schubst er mich seinem Vater regelrecht in die Arme. Er will unsere Nähe erzwingen. Er spürt, dass sie uns langsam verloren geht.
Bernhard, ja, Bernhard! Was soll ich sagen, Leo? Warum muss ich dir das sagen, ausgerechnet dir? Es fällt mir schon schwer genug, es mir selbst einzugestehen. Unsere Beziehung ist
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