Alle sieben Wellen
Vergiss nicht: Du verfügst über tonnenschwere Gefühlsschränke. Du brauchst sie nur gelegentlich zu lüften.
15 Minuten später
AW:
Was mich interessieren würde: Hat sich durch unsere zwei Treffen etwas bei dir verändert, Emmi?
40 Sekunden später
RE:
Bei dir?
30 Sekunden später
AW:
Zuerst: Bei dir?
20 Sekunden später
RE:
Nein, zuerst: Bei dir?
Eine Minute später
AW:
Okay, zuerst: Bei mir. Aber davor musst du mir noch die ausständigen Fragen beantworten. Das ist ein faires Angebot, meine Liebe.
Vier Stunden später
Betreff: Fragenkatalog zwei
Gut. Bringen wir es hinter uns:
1.) Wieso habe ich nach Boston wieder Kontakt zu dir aufgenommen? Wieso wohl? – Weil das Dreivierteljahr »Boston« das schlimmste Dreivierteljahr seit der offiziellen Spaltung von Jahren in vier Viertel war. Weil der Mann der Worte sich wortlos aus meinem Leben geschlichen hatte. Feige, durch eine Hintertür im Postausgang, die mit einem der grausamsten Botschaften der Gegenwartskommunikation verriegelt war. Der Spruch begleitet mich bis heute in meine Träume (und wenn die Technik es böse meint, jederzeit auch wieder in meine Mailbox): ACHTUNG. GEÄNDERTE E-MAIL-ADRESSE, blablabla.
Leo, unsere »Geschichte« war noch nicht fertig. Flucht ist nie der Endpunkt, immer nur dessen Hinauszögerung. Das weißt du ganz genau. Sonst hättest du mir nicht geantwortet, neuneinhalb Monate danach.
2.) Wie denke ich heute über die Umstände, die zu unserer E-Mail-Trennung geführt hatten? – Leo, was ist das für eine Frage? Was sollen das für Umstände gewesen sein? Dir war die Sache mit mir zu viel geworden, zu viel oder zu wenig. Zu wenig für deine emotionelle Investition, deine illusionistischen Ausgaben. Zu viel für den praktischen Gewinn, deine realen Einnahmen. Das Unternehmen Emmi hat sich nicht mehr gerechnet. Du hattest die Geduld mit mir verloren. Das, lieber Leo, waren die Umstände, die zu unserer E-Mail-Trennung führten.
3.) Jetzt wird’s spannend: Wie konnte ich Bernhard verzeihen? – Leo, ich habe diese Frage jetzt mindestens zwanzig Mal gelesen.Ich verstehe sie nicht, ehrlich nicht. WAS hätte ich Bernhard verzeihen können sollen? Dass er mein Ehemann ist? Dass er unserer E-Mail-Liebe im Wege stand? Dass er dich durch seine Existenz letztendlich in die Flucht geschlagen hat? Leo, worauf zielt deine Frage ab? Das musst du mir erklären.
4.) So, und zum Abschluss: Wie konnte ich dir verzeihen? Ach, Leo. Ich bin bestechlich. Schöne E-Mails von dir – und ich verzeihe dir alles, sogar neuneinhalbmonatige Kunstpausen. Fertig!!
Zehn Minuten später
Kein Betreff
So, mein Lieber, und jetzt verrätst du mir, ob sich durch unsere Treffen etwas bei dir verändert hat. (Und natürlich: was.) Wangenkuss und Handinnenflächenpunktberührung, Emmi.
KAPITEL SIEBEN
Am nächsten Abend
Betreff: Leo?
Leo?
Am nächsten Morgen
Betreff: Weckruf
Leo?
Leeeooo?
Leo eo eo eo eo eo eo eeeeeeeeooooooooo??
Le e e e e e e e e eeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeooooooooo???
Elf Stunden später
Betreff: Treffen
Liebe Emmi, können wir uns noch einmal treffen? Ich muss dir etwas sagen. Es ist wichtig, denke ich.
Zehn Minuten später
RE:
»Pam« ist schwanger!
Drei Minuten später
AW:
Nein, Pamela ist nicht schwanger. Pamela hat nichts damit zu tun.
Hast du morgen oder übermorgen irgendwann kurz Zeit?
Eine Minute später
RE:
Klingt dramatisch! Wenn es eine gute Nachricht ist, die du mir plötzlich so dringend persönlich zu überbringen hast, dann: Ja, ich habe »irgendwann kurz Zeit«!
Zwei Minuten später
AW:
Es ist keine gute Nachricht.
40 Sekunden später
RE:
Dann verkünde sie mir schriftlich. Aber bitte noch heute! Ich habe morgen einen schweren Tag. Ich muss wenigstens ein paar Stunden schlafen.
Zwei Minuten später
AW:
Bitte, Emmi, lass uns lieber in den nächsten Tagen einmal in aller Ruhe darüber reden! Und jetzt zerbrich dir nicht den Kopf und geh ins Bett. Ja?
40 Sekunden später
RE:
Leo, ich lasse mich gerne trösten. Aber ich lasse mich nicht VERtrösten. Nicht von dir. Nicht auf diese Weise. Nicht mit den Worten »Zerbrich dir nicht den Kopf und geh ins Bett«. Also sag schon!
30 Sekunden später
AW:
Emmi, bitte, glaub mir, das Thema gehört nicht in die Gute-Nacht-Mailbox. Darüber müssen wir von Angesicht zu Angesicht reden. Auf ein paar Tage kommt es dabei wirklich nicht an.
50 Sekunden
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