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Alle sieben Wellen

Titel: Alle sieben Wellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Glattauer
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Morgen
    Betreff: Deine Frage
    Guten Morgen, Emmi. Ich habe gerade mit einem »Spezialisten« telefoniert: Das »System« ist wieder in Ordnung. Ich hoffe, du bist ausgeschlafen. Ach ja, du sagst, du hast mich etwas gefragt. Was wolltest du wissen? Alles Liebe, Leo.
     
    Eine Stunde später
    RE:
    In verknappter Form: Heute, 15 Uhr, Messecafé?
     
    30 Minuten später
    AW:
    Ja, aber (...). Nein, kein Aber. Ja!
     
    20 Minuten später
    RE:
    Schön! Und für diese interessante Kausalkette hast du dreißig Minuten gebraucht, mein Lieber? NUR dreißig Minuten? Darf ich analysieren? Zuerst ein »Ja« der scheinbar entschlossenen Zusage. Dann ein Komma der zu erwartenden Beifügung. Dann ein »Aber« der angekündigten Einschränkung. Danneine runde Klammer der schriftlichen Formalkunst. Dann drei Punkte der geheimnisumwitterten Gedankenvielfalt. Danach Disziplin genug, um die Klammer zu schließen und das anonyme Wirrnis zu verpacken. Danach ein wertkonservativer Punkt, um im inneren Chaos die äußere Ordnung aufrechtzuerhalten. Dann plötzlich ein trotziges »Nein« der scheinbar entschlossenen Absage. Wieder ein Komma der bevorstehenden Ergänzung. Danach ein »Kein« der kompromisslosen Ablehnung. Dann ein neuerliches »Aber«, ein sich auflösendes, ein »Aber«, das nur da ist, um aufzuzeigen, dass es keines mehr gibt. Alle Zweifel angedeutet. Kein Zweifel ausgesprochen. Alle Zweifel abgeschoben. Am Ende steht ein tapferes »Ja« mit trotzigem Ausrufezeichen. Nochmals zusammengefasst: »Ja, aber (...). Nein, kein Aber. Ja!« Was für ein prächtiges Rondo deiner Wankelmütigkeit. Welch faszinierender Rundgesang deiner offen ausgetragenen Entscheidungsfindung. Dieser Mann weiß genau, dass er nicht weiß, was er will. Und dieses Wissen versteht er wie kein anderer an jene Person weiterzureichen, die es betrifft. Und das alles in läppischen dreißig Minuten. Genial! Dafür hat man dich Sprachpsychologie studieren lassen, lieber Leo.
     
    Drei Minuten später
    AW:
    Und du weißt, was du willst?
     
    30 Sekunden später
    RE:
    Ja.
     
    40 Sekunden später
    AW:
    Was?
     
    50 Sekunden später
    RE:
    Dich. (Noch einmal auf einen Kaffee treffen.) ((Du siehst, auch ich beherrsche das Spiel der Klammern.))
     
    30 Sekunden später
    AW:
    Wozu?
     
    Eine Minute später
    RE:
    Weil ich das Gleiche tue, was du tust, wenngleich du es dir, Klammer auf, und mir, Klammer zu, offenbar nur im betrunkenen Zustand eingestehen kannst.
     
    40 Sekunden später
    AW:
    Und das wäre?
     
    30 Sekunden später
    RE:
    Mich für dich interessieren.

    40 Sekunden später
    AW:
    Ja, liebe Emmi. Kein Aber, keine Punkte, keine Klammern. Einfach nur: Ja. Richtig. Gut erkannt. Ich interessiere mich für dich.
     
    Eine Minute später
    RE:
    Bestens, lieber Leo. Dann sind die Voraussetzungen für einen zweiten gemeinsamen Kaffeehausbesuch erfüllt, meine ich. Um drei?
     
    20 Sekunden später
    AW:
    Ja. Klammer auf. Ausrufezeichen. Ausrufezeichen. Klammer zu. Um drei.
     

KAPITEL SECHS

 
    Gegen Mitternacht
    Betreff: Du
    Lieber Leo, diesmal danke ich (zuerst). Danke für den Nachmittag. Danke, dass du mich durch einen schmalen Spalt in deinen Gefühlsschrank blicken hast lassen. Was ich sehen konnte, hat mich davon überzeugt, dass du bist, der du schreibst. Leo, ich habe dich erkannt. Ich habe dich wiedererkannt. Du bist der Gleiche. Du bist ein und derselbe. Du bist wirklich. Ich mag dich sehr gern! Schlaf gut.
     
    20 Minuten später
    AW:
    Liebe Emmi, auf der Innenseite meiner linken Hand, etwa in der Mitte, wo die Lebenslinie von dicken Faltenbögen durchkreuzt Richtung Pulsader abbiegt, dort befindet sich ein Punkt. Ich betrachte ihn, aber ich kann ihn nicht sehen. Ich fixiere ihn, aber er lässt sich nicht festhalten. Ich kann ihn nur fühlen. Ich spüre ihn auch mit geschlossenen Augen. Ein Punkt. Er fühlt sich so stark an, dass mir schwindlig wird. Wenn ich mich auf ihn konzentriere, entfaltet sich seine Wirkung bis in die Zehen. Er prickelt, er kitzelt, er wärmt mich, er wühlt mich auf. Er treibt meinen Kreislauf an, er dirigiert meinen Puls, er bestimmt das Tempo meiner Herzschläge. Und im Kopf, da entfaltet er seine berauschende Wirkung wie eine Droge, erweitert mein Bewusstsein, verschiebt meinen Horizont. Ein Punkt. Ich könnte lachen vor Freude, weil er mir so guttut. Ich könnte weinen vor Glück, ihn zu besitzen und bis in die feinsten Glieder von ihm erfasst und erfüllt zu werden.
    Liebe Emmi, auf der Innenseite meiner linken Hand, wo

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