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Alle Zeit - Roman

Alle Zeit - Roman

Titel: Alle Zeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Gerlof
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daherkommen, lückenlos, in bunten Bildern. Sogar riechen kann sie die Geschichten. Fliegerhorst
     riecht nachverbranntem Gras, Machorka und Maschinenöl. Nach ungewaschenen Männern und Angst. Und Hunger. Hunger riecht auch. Und nichts
     riecht mehr als eine leere Speisekammer.
    ***
    Ich habe nichts. Es tut mir leid, ich habe nichts, komm da raus, die Kammer ist leer. Komm da raus, ich bitte dich.
    Das Mädchen hört nicht. Es will nicht hören. Ich esse meine Schlüpfer, sagt es und zeigt auf die vom vielen Waschen grau gewordene
     Unterwäsche. Schlüpfer kann man essen, sagt das Mädchen. Wenn sie gekocht sind.
    Die Mädchenmutter hält sich eine Hand vor die Augen. Deine Schlüpfer lassen sich nicht essen. Sie sind zu alt. Komm her, ich
     werde dir etwas versprechen. Nachher, wenn es dunkel wird, gehe ich zu den Soldaten. Auf den Flugplatz. Den kennst du doch.
     Die Soldaten haben Kartoffeln. Und wenn ich ihnen sage, dass du großen Hunger hast, werden sie mir welche geben.
    Schenk ihnen dafür meine Schlüpfer, sagt das Mädchen.
    Das brauche ich nicht, sie werden mir auch so Kartoffeln geben. Aber du musst allein zu Hause bleiben, hörst du. Ich werde
     eine Weile fort sein. Du darfst nicht weinen.
    Ich weine nicht, sagt das Mädchen, und aus den Augen läuft es wie auf Bestellung. Ich weine nicht.
    Die Mädchenmutter macht sich abends auf den Weg. Vier Kilometer sind es bis zum Fliegerhorst. Am Schlagbaum steht ein Soldat
     mit einem ganz flachen Gesicht. Als hätte jemand die dritte Dimension vergessen, denkt die Mädchenmutter. Das flache Gesicht
     grinst und wird dadurch noch flacher. Du, sagt der Soldat. Schön. Essen?
    Die Mädchenmutter nickt, der Soldat winkt sie durch.
    In der Baracke sitzt der gleiche Offizier wie vor einer Woche. Ein Soldat putzt ihm die Stiefel. Der wird rausgewiesenmit herrischer Geste und schiebt die Zunge zwischen die Lippen, als er an der Mädchenmutter vorbeigeht.
    Kartoffeln, sagt der Offizier. Brot, keine Milch. Nix Malako für deutsche Frauen. Er steht auf und schließt die Tür ab. Die
     Mädchenmutter zieht sich aus und legt sich auf das Feldbett. Sie schließt die Augen und hört das Klacken des Koppels. Sie
     hört, wie die geputzten Stiefel auf den Boden geworfen werden und das reibende Geräusch des Uniformstoffs. Alles dauert unendlich
     lange. Und tut weh. Ein bisschen. Weniger als beim ersten Mal. Danach streicht der Offizier der Mädchenmutter mit dem Daumen
     kurz über die Wange. Krieg verloren, Ehre kaputt, sagt er und steht auf.
    Er packt der Mädchenmutter Kartoffeln und Brot in die Tasche und schiebt sie aus der Tür. Als sie an dem Soldaten mit dem
     flachen Gesicht vorbeikommt, winkt der sie ran und zeigt ihr eine glänzende Uhr. Sie schüttelt den Kopf und geht weiter. Glänzende
     Uhren kann man nicht essen, und für den Schwarzmarkt fehlt ihr die Kraft. Außerdem kommt es ihr weniger schlimm vor, für Brot
     und Kartoffeln die Beine breit zu machen. Vielleicht aber liegt es auch einfach nur an dem zweidimensionalen Gesicht. Vor
     dem könnte sie schlecht die Augen verschließen. Da wäre sie wirklich nackt.

 
    Svenja schreit, und Julis Brüste tun weh. Das wird, sagt die Hebamme. Du musst sie einfach immer anlegen, wenn sie Hunger
     hat. Und abpumpen, wenn es zu sehr weh tut. Juli nimmt Svenja auf den Arm und wandert mit ihr durch die Wohnung. Die Hebamme
     packt ihre Sachen und hat ein schlechtes Gewissen. Wenn das mal gutgeht, denkt sie. Zwei Kinder in einer zu kalten und zu
     kleinen Wohnung. Niemand da, der sich kümmert.
    Sie klebt einen gelben Zettel mit ihrer Telefonnummer an die Wohnungstür. Ruf mich an, wenn du was brauchst. Morgen bringt
     dir mein Mann einen Ölradiator vorbei. Fehlt dir jetzt noch irgendetwas?
    Meine Mutter, sagt Juli und drückt Svenja an sich. Sie hätte sich verdammt noch mal nicht einfach aus dem Staub machen dürfen.
    Sie ist tot, sagt die Hebamme. Da lag es wohl nicht in ihrem Ermessen. Sie küsst Juli auf die Stirn und Svenja auf die Nase
     und verlässt die beiden. Julis grüne Haare tauchen im Flurspiegel auf und ab, als sie die Tür hinter der Hebamme schließt.
     Sie läuft zum Fenster, um einen letzten Blick auf die verpackte Gestalt zu erhaschen.
    Jetzt sind wir allein, seufzt sie und legt sich mit Svenja auf den großen Futon neben dem dunkelgrünen Kachelofen. Svenja
     ist eingeschlafen und sieht aus wie ein Äffchen. Das ganze Gesicht voller Flaum, blond und fein. Juli pustet sacht. Die Härchen
     bewegen

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