Alleingang: Kriminalroman (German Edition)
Eigenbrötler gewesen. Einer, der eigentlich immer irgendwo anders war.
Das traf alles auf Egon zu. Aber doch nicht auf Karl!
Offensichtlich hatte Egon seinen Freund Karl beschreiben wollen, aber dabei sich selbst beschrieben. Für den Reporter genügten Egons knappe Charakterisierungen. Er wusste nun, was mit Karl los war.
Ein unzufriedener Einzelgänger. Ein Grübler. Einer, der nur so tut, als sei er mit seiner Aufgabe einverstanden. Jemand, der seinen Platz in der Welt nicht findet. Nie findet. Und diesen Menschen schickt die Bundeswehr nach Afghanistan. Nach Kundus. In den Kampf mit den Taliban. Was passiert mit einem Menschen wie Karl Blau, wenn er gefordert wird? Wirklich gefordert. So wie man in einem Land gefordert wird, in dem Selbstmordattentäter und Sprengfallen lauern.
Der Autor gab selbst keine Antwort auf seine Frage. Das überließ er einem, der das Problem besser beurteilen konnte, wie es hieß. Major Ernesto Breuninger von der Bundeswehr.
Der Major erklärte den Lesern der Ostseezeitung, was in Kundus geschehen war:
Wir unterscheiden zwei Problemgruppen. Einmal diejenigen, die mit der Gefahr und dem Elend in Afghanistan nicht fertig werden. Die maulen erst. Dann werden sie laut. Sie geraten leicht aus der Fassung. Schon ein falsches Wort genügt da. Solche Kameraden fallen schnell auf. Normalerweise ist dann jemand zur Stelle, der sich um sie kümmert: Ob das jetzt der Feldwebel ist oder ein besonders geschulter Offizier, der für die psychologische Betreuung zuständig ist.
Bei der zweiten Problemgruppe ist es schwieriger. Das sind Leute, die gewissenhaft ihren Dienst verrichten und sich nicht anders benehmen als sonst. Aber sie haben große Probleme. Nur versuchen sie, die zu verstecken. Sie tun alles, um nicht aufzufallen. Solchen Leuten zu helfen, ist für uns erst dann möglich, wenn sie die Kontrolle über sich verlieren. Aber dann ist es meistens zu spät. Leider.
Karl Blau gehörte zu dieser zweiten Gruppe.
Zum Schluss ließ der Autor noch einen Islamexperten zu Wort kommen, der bemerkte, die Mullahs sprächen ganz besonders Menschen an, die nicht mehr weiterwüssten und mit dem Rücken zur Wand stünden. Besonders labile Charaktere seien anfällig für die oft simplen Heilsversprechen dieser Verführer.
Den Rest konnten sich die Leser denken: Karl Blau war in Kundus unter der Last seines Einsatzes zusammengebrochen und als psychisches Wrack dem Islam auf den Leim gegangen.
Marie schleuderte die Zeitung in die Ecke.
Von den zivilen Opfern der Militäreinsätze war keine Rede, erst recht nicht von den acht Kindern, die bei dem amerikanischen Angriff mit deutscher Unterstützung ums Leben gekommen waren.
Karl war vielmehr übergelaufen, weil er nicht stark genug war für Kundus. Mit der verfehlten Politik der Deutschen in Afghanistan hatte das gar nichts zu tun. Das war das, was die Ostseezeitung ihren Lesern suggerierte.
Marie war versucht, Major Breuninger anzurufen. Aber sie ließ es. Was sollte dabei herauskommen? Ernesto Breuninger hatte – dessen war Marie sich sicher – dem Reporter nicht nur als fachmännischer Interviewpartner gedient. Er hatte mehr getan, damit dieser Artikel in die Zeitung gelangen konnte. Und die Ostseezeitung war nicht die einzige Zeitung in Deutschland, die diese Sicht der Dinge vertrat. Dafür hatte der Psychologe Ernesto Breuninger gesorgt.
Marie war gerade dabei, den Tisch abzuräumen. Sie hatten Abendbrot gegessen und wollten zusammen die Mathe-Hausaufgaben machen, mit denen Felix allein nicht fertig geworden war. Doch dann hatte der Junge einen Moment der Unaufmerksamkeit genutzt und war noch schnell zum Fernseher geschlüpft.
»Papa, Papa!« Felix kam in die Küche gerannt. »Schnell, komm! Papa ist schon wieder im Fernsehen.«
Marie stellte die Teller auf die Spüle und rannte hinter Felix her. Der Junge lachte. »Jetzt kommt er fast jeden Tag. Nächstes Mal muss ich den anderen in der Schule Bescheid sagen.«
Wieder wurde das Foto von Karl gezeigt, das im Feldlager in Kundus aufgenommen worden war. Doch diesmal war seine Stimme nicht zu hören. Der Nachrichtensprecher verlas eine Ankündigung. »Soeben erreicht uns über Aljazeera die Meldung, dass der Bundeswehrangehörige Karl Blau, der sich seit mehreren Tagen bei einem Talibantrupp befindet, in Kürze seine angekündigte Erklärung abgeben wird. Der arabische Sender wird den Auftritt des Oberleutnants live übertragen. Wir schalten uns direkt in das laufende Programm von
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