Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
jeder Zahl, und wartet dann auf den Beginn der nächsten Minute. Sie muss nicht auf die Uhr schauen, um zu wissen, wann eine Minute um ist. Endlich ist sie alt genug, um sich in der Zeit frei zu bewegen.
Eins. Zwei. Drei.
Frau Schmidt: Die Straßmannstraße Nr. 2 haben die Russen gesprengt, weil wir die Panzersperren nicht schnell genug weggeräumt haben. Wir konnten ja nicht schneller, hatten ja keine Kraft mehr.
Vier. Fünf. Sechs.
Frau Podbielski: In den Teig für den Bienenstich habe ich manchmal das Innere von Pflaumenkernen hineingemengt, die Pflaumenkerne kann man knacken wie Nüsse.
Sieben. Acht. Neun.
Frau Giesecke: Am Subbotnik haben meine Kinder immer mitgeholfen, das zerknüllte Papier aus den Büschen zu sammeln.
Der Aufenthaltsraum ist voll unerzählter Geschichten.
Zehn.
Auch in der Woche, in der Frau Hoffmann, einen Tag nach ihrem neunzigsten Geburtstag, sterben wird, ist die Zeit ein Brei aus Zeit, ist zäh, will nicht vergehen, muss totgeschlagen werden, verbracht, abgesessen werden, und zieht sich. Was ist ein Donnerstag, was ein Freitag? Nachmittags ist mal der gekommen, mal der oder die, hat ihre Hand gehalten, warum?, hat sie bei der knochigen Schulter gefasst und gesagt: Kopf hoch! Oder ist niemand gekommen? Die Tage, an denen jemand kommt, und die Tage, an denen sie einfach nur sitzt, fallen alle in eins zusammen, die Zeit ist ein Brei aus Zeit. Wer bist du? Vom Leben ist nur noch das übrig, was ganz am Grund liegt, wenn alle anderen Vorräte schon ganz und gar aufgezehrt sind: Dann kommt der eiserne Vorrat zum Vorschein.
Eine rechts, eine links, die Kursleiterin hilft ihr dabei.
Ich bin so ein schreckliches Schaf.
Aber Sie machen das gut, Frau Hoffmann.
Ich habe noch nie gewusst, wie so etwas geht.
Hier mit der Nadel hinein und den Faden durchziehen.
Ah so.
Prima, Frau Hoffmann.
Wissen Sie, ich bin nicht – wie man so sagt – verträumt. Das ist es nicht. Es ist etwas anderes: Angst.
Der eiserne Vorrat, die Angst.
Angst, ich mache wieder etwas falsch.
Angst vor dem Tag, Angst vor der Nacht, Angst vor dem Gewitter, vor Fremden, die sie besuchen, Angst vor dem Gift im Essen und vor der Schwester, die freundlich tut, aber in Wahrheit ihr Goldarmband stehlen will, Angst, wohin der Rollstuhl, in dem sie sitzt, geschoben wird, und von wem?, Angst vor dem Arzt und Angst vor den Schmerzen, Angst vor ihrem Sohn, der sie hierher gebracht hat, Angst vor dem Leben und Angst vor dem Tod, Angst vor der vielen Zeit, die noch abgelebt werden muss.
Aber Frau Hoffmann, Sie müssen doch keine Angst haben.
Diese Angst, dass ich etwas falsch mache, ist so groß, d a s s ich dann auch immer etwas falsch mache.
Sie haben doch schon eine ganze Reihe tadellos gestrickt, Frau Hoffmann.
Nein, nein, irgend etwas ist immer falsch. Ich weiß das und kann es nicht ändern.
Schauen Sie, jetzt drehen Sie das Ganze herum, und es geht wieder von vorn los.
Es ist richtig so?
Aber ja, richtiger geht’s nicht.
Das wird halten?
Ja, warum sollte es nicht?
Vor ungefähr achtzig Jahren hat eine Handarbeitslehrerin in Wien die Arbeit einer Schülerin als schlunzig und schleißig bezeichnet. Hat diese Schülerin vielleicht nur deshalb ein so langes Leben bekommen, damit der Satz der verhassten Wiener Handarbeitslehrerin jetzt durch den Satz einer anderen Handarbeitslehrerin endlich ausgelöscht und begraben werden kann? Ist diese Schülerin nur darum so lang auf der Welt, damit durch sie hindurch zum Beispiel diese zwei Sätze gegeneinander antreten können, und der schlechtere Satz endlich unterliegt? Bildet vielleicht die Summe all dessen, was irgendwann einmal irgendwo auf der Welt gesagt wurde und wird, ein lebendiges Ganzes, das nur manchmal nach dieser, manchmal nach der anderen Seite Auswüchse hat, am Ende aber sich wieder ausgleicht? Dann wäre also dieses das Ende?
Eine rechts, eine links.
Genau.
Und dann umdrehen, und es geht wieder von vorn los.
Das ist die ganze Kunst?
Das ist die ganze Kunst.
3
E in Mann sitzt in Wien im Café Museum vor einem Glas Wasser und überlegt, womit er bei seiner Rückkehr der Mutter eine Freude machen könnte, der Mutter, die in Wien ein Kind war. Soll er ihr einen kleinen bronzenen Stephansdom kaufen, eine Sachertorte direkt im Hotel Sacher, oder ihr einfach nur einen Zweig mitbringen von einem Baum auf dem Arenbergplatz, unweit der Wohnung, wo sie früher gelebt hat? Er kann sich nicht vorstellen, dass seine Mutter einmal ein Kind war. An dem Tag vor
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