Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
1
D er Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, hatte die Großmutter am Rand der Grube zu ihr gesagt. Aber das stimmte nicht, denn der Herr hatte viel mehr genommen, als da war – auch alles, was aus dem Kind hätte werden können, lag jetzt da unten und sollte unter die Erde. Drei Handvoll Erde, und das kleine Mädchen, das mit dem Schulranzen auf dem Rücken aus dem Haus läuft, lag unter der Erde, der Schulranzen wippt auf und ab, während es sich immer weiter entfernt; drei Handvoll Erde, und die Zehnjährige, die mit blassen Fingern Klavier spielt, lag da; drei Handvoll, und die Halbwüchsige, der die Männer nachschauen, weil ihr Haar so kupferrot leuchtet, wurde verschüttet; dreimal Erde geworfen, und es wurde auch die erwachsene Frau, die ihr, wenn sie selbst begonnen hätte, langsam zu werden, eine Arbeit aus der Hand genommen hätte mit den Worten: ach, Mutter, auch die wurde langsam von Erde, die ihr in den Mund fiel, erstickt. Unter drei Händen voll Erde lag eine alte Frau da im Grab, eine Frau, die selbst schon begonnen hat, langsam zu werden, zu der eine andere junge Frau oder ein Sohn manchmal gesagt hätte: ach, Mutter, auch die wartete nun darauf, dass man Erde auf sie warf, bis die Grube irgendwann wieder ganz voll sein würde, und ein wenig voller als voll, denn den Hügel über der Grube wölbt ja der Körper aus, wenn der auch viel weiter unten liegt, wo man ihn nicht mehr sieht. Über einem Säugling, der plötzlich gestorben ist, wölbt sich der Hügel fast gar nicht. Eigentlich aber müsste der Hügel so riesig sein wie die Alpen. Das denkt sie, und dabei hat sie die Alpen noch niemals mit eigenen Augen gesehen.
Sie sitzt auf derselben Fußbank, auf der sie als Kind immer saß, wenn ihre Großmutter ihr Geschichten erzählte. Diese Fußbank war das Einzige, was sie sich von der Großmutter für ihren eigenen Hausstand gewünscht hatte. Sie sitzt im Flur auf dieser Fußbank, lehnt sich an die Wand, hält die Augen geschlossen und rührt das Essen und Trinken, das eine Freundin vor sie hingestellt hat, nicht an. Sieben Tage wird sie jetzt so da sitzen. Ihr Mann hat versucht, sie hochzuziehen, aber gegen ihren Willen hat er es nicht geschafft. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, war sie froh. Noch am letzten Freitag hatte die Urgroßmutter der schlafenden Kleinen über den Kopf gestrichen und sie ihr Maideleh genannt. Sie selbst hatte durch die Geburt des Kindes ihre Großmutter in eine Urgroßmutter verwandelt, und ihre Mutter in eine Großmutter, aber jetzt waren all die Verwandlungen schon wieder aufgehoben. Vorgestern hatte ihre Mutter, die zu der Zeit noch eine Großmutter genannt werden konnte, ihr eine wollene Decke mitgebracht, die sollte sie sich umlegen, wenn sie an kalten Tagen mit dem Säugling im Park spazierenging. Angeschrien hatte ihr Mann sie in der Nacht, sie solle doch irgendetwas tun. Aber sie hatte nicht gewusst, was in solch einer Lage zu tun war. Nach seinem Schreien, und nach den wenigen Minuten in dieser Nacht, als sie nicht gewusst hatte, was tun, nach diesem einen Moment, in dem auch ihr Mann nicht gewusst hatte, was tun, hatte er kein Wort mehr mit ihr gesprochen. Sie war in ihrer Not zur Mutter gelaufen, die nun keine Großmutter mehr war, die Mutter hatte zu ihr gesagt, sie solle nach Hause zurückgehen und dort auf sie warten, sie schicke die Leute. Während ihr Mann im Wohnzimmer auf und ab ging, hatte sie nicht gewagt, das Kind noch einmal zu berühren. Sie hatte alle Eimer, die mit Wasser gefüllt waren, aus dem Haus gebracht und ausgeschüttet, hatte den Spiegel im Flur mit einem Laken verhängt, hatte die Fenster des Zimmers, in dem das Kind lag, zur Nacht hin geöffnet, und sich dann neben die Wiege gesetzt. Mit diesen Handgriffen hatte sie sich an den Teil des Lebens erinnert, der von Menschen besiedelt war. Das aber, was sich vor nicht einmal einer Stunde hier in ihrer Wohnung ereignet hatte, ließ sich von keiner Menschenhand greifen.
So war es auch bei der Geburt des Kindes gewesen, die noch nicht einmal acht Monate her war. Nach einer Nacht, einem Tag und wieder einer Nacht, in der das Kind nicht gekommen war, hatte sie sterben wollen. So weit entfernt hatte sie sich während dieser Stunden vom Leben: von ihrem Mann, der draußen wartete, von ihrer Mutter, die in einer Ecke des Zimmers auf einem Stuhl saß, von der Hebamme, die mit Wasserschüsseln und Tüchern hantierte, und längst auch von diesem Kind, das angeblich in ihrem Leib
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