Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
Kreis, und jenseits des Kreises sind wurstförmige grüne und blaue Strahlen. In der Flasche steckt eine einzelne Rose, gegen die Flasche gelehnt ist eine Geburtstagskarte, auf der steht: Herzlichen Glückwunsch! – von Herrn Zander und seiner Frau. Wer sind Herr Zander und seine Frau? fragt der Sohn. Gute Freunde, gibt ihm seine Mutter zur Antwort. Aha, sagt der Sohn. Bevor er geht, nimmt er noch das Miniaturbild und lehnt es auch an die Flasche. In Treue fest.
Langsam, sagt die Mutter, will ich versuchen, die Bürde mit dem Bürdentitel anzusprechen.
Kommst du zurecht, fragt der Sohn.
Jaja, sagt die Mutter. Ein Jahrhundert hab ich auf die Arme gezwungen. Momentan, meine ich.
Ich sage der Schwester Bescheid, dass sie dir beim Umziehen hilft und dich zu Bett bringt, in Ordnung?
Ich weiß nicht, sagt die Mutter, was mag es bedeuten, dass wir so traurig sind.
Ich geh dann, Mutter, sagt der Sohn.
Jaja, sagt die Mutter, geh nur, Junge, und setz die Mütze auf.
52.58867 Grad nördlicher Breite, 13.39529 Grad östlicher Länge.
Als früh um sechs das Telefon klingelt, weiß der Sohn, dass es nur für ihn sein kann. Zwischen 4 und 5 Uhr sei leider, für ihn sicher sehr schwer, aber für die Mutter vielleicht besser, wir alle in Gottes Hand.
Noch eine Woche lang wird er jeden Morgen genau um 4 Uhr und 17 Minuten wach werden, jeden Morgen genau im Moment der größten Stille, unmittelbar bevor die Vögel anfangen zu singen. In diesen Nächten wird er zum ersten Mal Träume haben und sich, wenn er aufwacht, an diese Träume erinnern.
Da liegt seine Mutter knapp unter der Erde, ihr Kopf schaut noch heraus: Bist du der, der mit mir in Ufa war, fragt sie. Ja, antwortet er und hebt die zehn Zentimeter Erde wie eine Decke an, um ihr ein Foto seiner zwei Kinder zuzustecken.
Und dann wacht er auf, es ist ganz still, und dann beginnen auf einmal die Vögel zu singen, es ist 4 Uhr und 17 Minuten.
Viele Morgende wird er in dieser Frühe, die ganz allein ihm gehört, aufstehen und in die Küche gehen, und dort wird er so weinen, wie er noch niemals geweint hat, und dennoch wird er sich, während ihm der Rotz aus der Nase läuft, und er seine eigenen Tränen verschluckt, fragen, ob diese merkwürdigen Laute und Krämpfe wirklich alles sind, was dem Menschen gegeben ist, um zu trauern.
Dank
Für die Unterstützung meiner Arbeit danke ich Herrn Wolf-Erich Eckstein vom Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, dem Wiener Stadt- und Landesarchiv, dem Archiv der Akademie der Künste Berlin, dem Deutschen Rundfunkarchiv und dem »Haus Immanuel« in Berlin-Niederschönhausen.
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