Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
das ihnen hier vorgesetzt wird?
Frische Brötchen vom Bäcker, Frau Hoffmann.
Darüber müsste einmal gesprochen werden, über dieses Essen, und über den Sinn davon, dass alle nur noch so ärmliches Zeug essen – aber ich konnte noch mit niemandem darüber sprechen.
Aber, aber, Frau Hoffmann.
Nein, ich kann das nicht essen. Ich muss erst in Erfahrung bringen, welche Entwicklung diese Menschen – der verschiedensten Art! – genommen haben, was sie bewegt, wofür sie zu gewinnen wären und wofür nicht.
Zwischen halb neun und halb zehn, nachdem das Frühstück abgeräumt ist, lohnt es sich nicht, sich ins Zimmer zurückfahren zu lassen. Man sitzt. Um halb zehn geht es in Rollstühlen in den Gymnastiksaal, bewegt werden Finger, Hände, Füße und Köpfe derer, die überhaupt nicht mehr, oder zumindest nicht mehr aus eigener Kraft aufstehen können, um 11 Uhr zurück in den Aufenthaltsraum. Von elf bis halb zwölf sitzt man. Der Fernseher läuft. An der Wand hängt eine große Uhr. Manche schlafen, in eine Decke gewickelt, im Rollstuhl.
Sie würde gern lesen. Wenn sie sich das Buch ganz dicht vor die Augen hielte, könnte sie die Buchstaben sogar entziffern, aber ihr fehlt in den Armen und Händen die Kraft, es zu halten.
Frau Zeisig war eine geschickte Skiläuferin.
Abfahrt! Ich wünsch mir so, noch einmal da runter zu sausen, aber es geht nicht.
Herr Behrendt war Pfarrer.
Ich wünsch mir so, manchmal etwas aufzuschreiben, aber der Kopf macht nicht mehr mit.
Frau Braun hat nach dem Krieg den ganzen Weg von Heydekrug an der Memel bis nach Berlin zu Fuß zurückgelegt, mit drei Kindern.
Was das heißt, kann sich keiner mehr vorstellen.
Und alle durchgebracht.
Alle drei tüchtige und liebe Kinder.
Aus der Küche ist das Klirren der Teller zu hören.
Mein Ältester hatte neulich schon selbst goldene Hochzeit.
Es riecht nach Eintopf. Von der Aushilfe wird der Tisch gedeckt. Der Aufenthaltsraum ist voller Wünsche. Um halb zwölf gibt es Mittag.
Frau Hoffmann sagt zu Frau Millner, die schwerhörig ist:
Wir müssen die Gruppe organisieren. Einige werden eher eintreffen, andere später – wir müssen alles koordinieren, und dann warten wir auf den Befehl der Führung.
Frau Millner blickt Frau Hoffmann nicht an, sie versucht, die kleingeschnittenen Hühnerstückchen vom Frikassee auf ihre Gabel zu spießen.
Auf keinen Fall dürfen wir handeln, ehe nicht der Befehl eingetroffen ist.
Frau Millner nickt, aber nicht, weil sie Frau Hoffmann zustimmen würde, sondern weil ihr das Frikassee schmeckt.
Ich warte jetzt auf meinen Mann, sagt Frau Hoffmann.
Ich habe immer an der Ecke gestanden und gewartet.
Mein ganzes Leben habe ich an der Ecke gestanden und gewartet.
Frau Hoffmann, sagt Schwester Renate im Vorbeigehen, Sie müssen aber auch etwas essen.
Wenn ich jetzt anfange zu essen, sagt Frau Hoffmann, wird mir so elend.
Aber, aber, sagt Schwester Renate.
Ich kann nicht.
Wenigstens einen Löffel, Frau Hoffmann.
Es wäre ja gut, wenn ich essen könnte, dann wäre das Leben noch irgendwie gefestigt.
Genau, Frau Hoffmann.
Aber ich kann nicht.
Nach dem Mittagessen versucht sie, die Räder ihres Rollstuhls selbst anzuschieben, um in ihr Zimmer zurückzufahren, aber sie kommt nicht voran, weil sie in den Händen nicht genug Kraft hat.
Ach, Frau Hoffmann, lassen Sie mich mal, sagt Schwester Renate und hilft ihr.
Auf dem Weg zu ihrem Zimmer sieht Frau Hoffmann vorn, am Ende des Ganges, den jungen Pfleger aus einer der vielen Türen herauskommen, sie ruft: Hallo! Hallo! Und hebt zum Grüßen die Hand, aber er hat es offenbar eilig, vielleicht auch hat er ihr Rufen nicht gehört, schon ist er in einer anderen der vielen Türen wieder verschwunden.
Er hat jetzt keine Zeit für Sie, Frau Hoffmann, aber vielleicht später.
Frau Hoffmann nickt. Wir müssen ein bisschen geduldig sein, nicht wahr?
Genau, Frau Hoffmann.
Mit unserer Sache.
Sicher.
Aber das ist alles nicht so ganz einfach.
Nein, da haben Sie recht.
Die Schwester schiebt den Rollstuhl ins Zimmer und in großem Bogen am Bett von Frau Buschwitz, die sich zum Mittagsschlaf hingelegt hat, vorüber.
Vor das Fenster, Frau Hoffmann?
Ja, bitte.
Als die Schwester den Rollstuhl arretiert hat und hinausgehen will, hält Frau Hoffmann sie am Ärmel fest:
Was soll ich jetzt machen?
Das kann ich Ihnen nicht sagen, Frau Hoffmann, sagt die Schwester und streift die alte Hand von ihrem Ärmel ab, kalt ist die, legt die kalte Hand von Frau Hoffmann in
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