Allerseelen
leid, daß er weine.
»Das gehört zum Gesundwerden«, sagte sie, »es completamente natural.«
Jetzt entwickelte sich eine Diskussion über Tränen, Weinen und Heulen. Das einzige, was noch fehlte, waren der Wein, der Saumagen und Herr Schultze.
»Und der Wodka«, sagte Zenobia.
Arno arbeitete gerade an einem Essay über Tränen in der Literatur. Das traf sich gut. Was hatte Nietzsche gesagt? Ja, man stelle sich bloß einmal vor, daß Nietzsche nichts gesagt hätte.
»Wer nicht weint, hat kein Genie«, sagte Victor. »Ich kenne meine Sprüche.«
»Ja, ja, aber auch: ›Ich weiß keinen Unterschied zwischen Tränen und Musik zu machen.‹«
»Es ist Zeit, Herrschaften.«
»Meiner Meinung nach ist bei Stendhal zum letztenmal richtig geweint worden«, sagte Arno. »In der Kartause von Parma heulen sie die ganze Zeit, Herzoginnen, Marquisen, Gräfinnen, Bischöfe, es ist ein einziges Tränental. Damit hat Flaubert wenigstens Schluß gemacht.« »Im zwanzigsten Jahrhundert hat in den Niederlanden niemand mehr geweint. Nur Deutsche weinen noch.« Das war Victor.
»Niederländer heulen. Seit den zwanziger Jahren heulen wir.«
»Alle Russen cheulen«, sagte Zenobia.
Er spürte, wie ihm die Worte entglitten. Was er eben getan hatte, bei Victors Tanz, war das Weinen gewesen oder Heulen? »Alle Russen cheulen.«
Er spürte, wie müde er war, aber die Worte schwirrten noch um ihn herum, Laute, die etwas behaupten wollten, es aber nicht mehr konnten. Er wartete, bis sie schmolzen, sich verflüchtigten, ineinanderflossen, bis nur noch ein leises Rauschen und Säuseln übrigblieb, das Geräusch seines eigenen Atems, das der Schlaf war.
*
An dem Tag, an dem er aus dem Krankenhaus entlassen werden sollte, kam Erna.
»Jetzt siehst du wenigstens nicht mehr aus wie eine Figur aus der Werbung.«
Sie hatte es also nicht vergessen, auch sie nicht. Er schaute mit ihr zusammen in den Spiegel. Ein kahlköpfiger Mann, einer, der jemandem glich, den er früher gekannt hatte.
»Wir könnten dich stante pede in ein Kloster bringen.«
Gemeinsam mit Daniel half sie ihm in der Wohnung die Treppe hinauf. Daniel hatte etwas verändert, sie wirkte heller.
In dem Zimmer, in dem er liegen würde, hatte Daniel zwei große Farbfotos aufgehängt, fast so groß wie Gemälde. In einer nebligen Landschaft waren Frauen unterwegs mit Blumen, Frauen an Gräbern. Der Nebel schien alles zu durchdringen, machte die Farben der Blumen matter, der Friedhof war so groß, daß sein Ende nicht zu erkennen war. Eine bleiche Wintersonne schien in die Nebelschleier, an diesen Stellen gingen die Frauen nicht, sie trieben dahin oder schwebten zwischen den Sarkophagen, den Akazien, den Zypressen, eine geträumte Welt, die bis zum Horizont reichte, Hunderte von Frauen waren es, einige standen gebeugt, als sprächen sie mit jemandem, sie ordneten Blumen in Töpfen, hielten einander fest, gleich würde ein Fest beginnen, sie würden tanzen zu der unhörbaren Musik, die zu den Nebelschleiern paßte, sie machten ihre Kinder auf etwas aufmerksam, das infolge der Entfernung auf diesem Foto unsichtbar war. Vielleicht schwebte dieser Friedhof ja selbst, er schwamm wie ein glückliches Schiff durch die Luft, gleich würde er aufsteigen, die Frauen und Kinder und Blumen mitnehmen auf eine Reise durch das All.
»Wo ist das?« fragte Arthur.
»In Porto. Es war ein kalter Tag, der Nebel blieb die ganze Zeit. Aber ich dachte, es würde dir gefallen. Ich hab die Fotos im letzten Herbst gemacht.«
»Aber was machen die da«, fragte Erna. »Es ist sehr festlich, aber warum sind da so viele?«
»Allerseelen.«
»Oh. Ist das etwas Katholisches? Ich hab schon mal was davon gehört, aber was passiert da genau?«
»Dann gedenkt man der Seelen der Verstorbenen. Am 2. November. Darauf warten die Toten das ganze Jahr.«
»Ja, ja. Und wenn diese Leute weg sind, fangen sie abends an, miteinander zu tanzen.«
Daniel sah sie an.
»Woher weißt du das? Davon habe ich auch Fotos gemacht, aber es war nichts darauf zu sehen.«
Als die beiden anderen weg waren, lag Arthur da und schaute immer noch auf die Bilder. Allerseelen. Er wußte nicht genau, was er sich darunter vorzustellen hatte, aber er hatte den Eindruck, das Wort habe mehr mit Lebenden als mit Toten zu tun.
Es mußten Tote sein, die sich noch irgendwo aufhielten, es war unmöglich, sie ganz wegzubekommen, man mußte ihnen noch Blumen bringen. Vielleicht hatten sie ihn ja gesehen, als er so nahe bei ihnen war. Aber
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