Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
Vom Netzwerk:
sicher gesehen habe, und von gespaltenen kleinen Schädeln und einem Eimer voll Föten und erbärmlicher Propaganda, und plötzlich erinnerte er sich an das Gesicht, das sie an jenem Abend gehabt hatte, als sie wie eine Mänade getanzt hatte. Was sie sagte, drang nicht richtig bis zu ihm durch, daß er versucht habe, sich in ihr Leben zu drängen, daß sie niemanden brauche, nie, niemanden, daß sie sich nie mit ihm hätte einlassen dürfen, daß sie sich nie mit wem auch immer …, Sätze und Teile von Sätzen, die endeten mit geh weg, geh um Himmels willen weg, Blender, Eindringling, und danach rannte sie selbst weg, machte kehrt, kam zurück, schlug ihm ins Gesicht, alles mit einem klagenden, scheltenden Jammern, das plötzlich aufhörte, so daß dies das Bild blieb, das sich ihm einprägte, eine Frau, die mit offenem Mund vor ihm stand und lautlos schrie, wie lange, würde er nie mehr wissen, erstarrt war er auf der Steinbank sitzen geblieben, als sie schon lange fort war, ein Mann zwischen Säulen, Löwen, geflügelten Frauen mit versteinerten Brüsten.
    Er sah, wie ein paar Kinder totenstill zu ihm herüberschauten, und ging dann weg und wußte, daß es kein Gehen war, sondern Fliehen, eine Flucht, die sich für den Rest des Tages fortsetzen sollte. Die Maschine in seinem Kopf konnte er nicht mehr stoppen. Das mit dem Tod hätte er um keinen Preis sagen dürfen, das war unverzeihlich. Aber hätte sie ihn denn nicht verständigen können? Wenn es ein Kind geworden wäre, dann wäre es doch auch sein Kind gewesen, oder nicht? Und wenn sie nichts davon hätte wissen wollen, dann hätte er doch dafür sorgen können? Aber es gab kein Kind, er durfte nicht daran denken. Es hatte nie eines gegeben, etwas in ihrem Leben hatte es verboten, verhindert, es war alles vor langer Zeit geschehen, und alles rächt sich früher oder später, und nichts daran wird je komisch, auch nicht beim zweiten oder dritten Mal. Jede Rechnung würde stets von neuem präsentiert werden, eine Persiflage würde der anderen folgen, jemand wird nicht geboren, weil – doch da war es wieder: jemand! Es gab keinen jemand, es gab nur eine Vergangenheit, die ewig weiterschwärte, immer und überall. Der Unterschied bestand darin, daß Länder manchmal tausend Jahre dafür brauchten.
    Er ging am Botanischen Garten entlang zum Bahnhof. Oben, unter der hohen gläsernen Überdachung, setzte er sich, ein großer, leerer Raum, in dem alte Männer Zeitung lasen. Auf dem Boden lag eine zerrissene Titelseite. Jemand war gekidnappt worden. Kaum war der eine befreit, war der nächste schon wieder gefangen. Diesmal ging es jedoch nicht um Lösegeld. Er zerknüllte die Zeitung zu einer Kugel. Keine Lust, das mußten sie unter sich ausmachen. Nach diesem noch einer und danach wieder einer. Er ging zu der großen Glasscheibe, durch die man eine Urwaldimitation sehen konnte, eine künstliche Landschaft, durch die die Reisenden auf dem Weg zu den Schnellzügen nach Sevilla, Alicante, Valencia gingen. Er aber wollte nicht nach Alicante, er wollte nach Hause. Erna hatte ihn gewarnt. Schlechte Nachricht. Frauen wußten immer alles früher. Nach Hause? Er hatte kein Zuhause, nicht so wie andere Menschen. War dies ein Versuch gewesen, ein Zuhause zu haben? Er mußte fort, weg aus dieser Stadt. Diesmal war ihm Spanien zuviel. Nach Norden, schauen, ob es einen Auftrag gab. Vielleicht lief ja irgendwo ein netter Krieg. Für die anonyme Welt war es jetzt gerade nicht die richtige Zeit. Er trank einen Kognak an der Bahnhofsbar, hier bekam man wenigstens noch einen Schwenker, der einen umhaute. Was sie jetzt wohl machte? Nicht daran denken. Die war weg. Die sah er nie wieder. Gehört sich auch nicht, einer Dame die Zeitung vor der Nase wegzuschnappen. Was hatte ihre Großmutter gesagt? Sie müssen vorsichtig sein, es geht ihr vielleicht nicht gut. Ja, wird schon so sein. Erna würde nicht gutheißen, was er getan hatte. Aber was hatte er denn getan? Manche Entscheidungen über das eigene Leben wurden in anderen Leben getroffen, und das nicht jetzt, sondern vor zehn oder zwanzig Jahren, in irgendeiner vorgeschichtlichen Zeit, an der man nicht beteiligt war. Etwas hatte dort geschlummert, war mitgetragen worden, bis es an einen anderen weitergegeben werden konnte, so gab es Formen des Bösen, die nicht aus der Welt wollten, die ihr verborgenes Leben führten, unsichtbare Wunden, Krankheitskeime, die auf ihre Chance warteten. Mit Schuld hatte das alles nichts zu tun, die hatte

Weitere Kostenlose Bücher