Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
euch auf dem Dachboden in einer Schachtel zusammen mit anderen unwichtigen Dingen. Sie hat diese Briefe gelesen. Seitdem ...« lässt Gina ihre Worte im Raum schweben.
»Mein Gott«, murmelt Frank. »Mein Gott.«
»Sie gab mir die Briefe, als wir wegen der Modemesse in Frankfurt waren«, setzt Gina hinzu.
»Papa ...«, weiß Tom sich nicht zu helfen. Seine Neugier paart sich mit Sorge.
»Otto und ich haben beschlossen ...«, flüstert Gina.
Otto schnauft. »Ja, wir - wir sind der Meinung, dass es Ottilie hilft, dass ...«
Lotte beugt sich vor, um einen der Briefe zu nehmen, aber Gina hält ihren Arm fest und schüttelt den Kopf. Lotte fügt sich und fällt in den Sessel zurück. »Kann mir mal einer sagen, was das hier soll?«
Frank nickt.
»Papa«, wiederholt Tom und legt seinem Vater eine Hand auf die Schulter.
»Ist gut, Filius«, sagt Frank und ein schneidendes Lächeln spaltet sein Gesicht. »Wie sagt Goethe?«
»Ich weiß nicht«, hat Tom keine Ahnung, was Vater meint und zieht seine Hand zurück.
»Alle Schuld rächt sich auf Erden, sagt er. Merke dir das, damit du ein rechtschaffener Mensch bleibst.« Er atmet tief ein und streckt seinen Rücken. Es sieht aus, als wachse er über sich hinaus, als gedeihe neues Selbstbewusstsein in ihm, als habe er den Schock verdaut. So wirkt es, nur Lotte nimmt mit aller Deutlichkeit wahr, wie sehr er leidet.
»Also soll es so sein«, beginnt Frank. »Eigentlich geht euch das hier einen feuchten Kehricht an.« Er nimmt die drei Briefe auf, schnuppert daran und hält sie vor sich wie ein Kartenblatt. »Aber wenn es schon mal so weit ist, dass meine Vergangenheit, mein Privatleben nicht mehr heilig ist, wofür ihr verdammt sein sollt.«
»Aber Frank«, stöhnt Gina, die nun wirklich ein sehr schlechtes Gewissen bekommt. »Wir haben das doch nur für Ottilie getan.«
»Tja, liebe Regina. Frag dich mal in einer stillen Minute, ob das wirklich so ist«, sagt Frank zur Seite und die Teekanne in Ginas Hand zittert. »Niemand kann dir und Otto das hier, diese dramatische Inszenierung, verbieten, nur der Anstand. Aber der scheint heutzutage nicht mehr weit verbreitet zu sein.«
»Wir dachten doch nur«, stottert Otto.
»Halt einfach deine Klappe und hör auf zu denken, das hat dir deine Frau vorhin doch auch schon gesagt, oder? Da kommt sowieso nichts bei raus«, fährt Frank dazwischen. »Ihr habt euch um Ottilie gekümmert, ihr hattet den Ärger mit ihr, ihr fühlt euch mitverantwortlich, und ich gehe davon aus, dass ihr die Briefe gelesen habt?«
Gina nickt.
»Dann habt ihr ein Anrecht auf die Wahrheit, ob’s mir passt oder nicht«, sagt Frank kalt und strafft sich, aber in seinem Gesicht entdeckt Lotte etwas, dass sie gruselt: Tiefe dunkle Angst. Sie wirft ihm einem Blick zu, in dem Fürsorge steht und der Fingerzeig: Du musst das nicht tun! Wir können unter vier Augen darüber reden. Lass uns das Taxi rufen und von hier verschwinden! Oder in ein Hotel gehen und morgen mit der Bahn fahren. Nur weg von hier.
Bisher haben sie alle Probleme gemeinsam gemeistert, hinter verschlossenen Türen. Sie gehören nicht zu denen, die Zeugen benötigen, um sich ihre Schuld oder deren Tilgung zu bestätigen. Disput ist für sie genauso intim wie Sex.
Falls Frank denkt, so sei alles zu lösen, ändert sich das in jenem Moment, in dem Lotte, zweifellos spontan, dennoch misstrauisch – wie hätte das sonst passieren können, wo doch Thomas anwesend ist? - die Frage entfährt: »Wer ist Michele?«
Frank zieht gottergeben die Schultern hoch, als habe er an Lottes Frage erkannt, dass die Mauern der Intimität endgültig brüchig geworden sind. »Es wäre das Beste, wir holen Ottilie dazu, falls sie noch nicht schläft. Andernfalls werde ich euch eine kurze Erklärung geben und später alleine und ausführlich mit meiner Tochter sprechen.«
»Du brauchst nicht zu warten, Papa«, kommt eine Stimme aus dem Hintergrund und alle schauen zu Ottilie hin, die unter dem Türrahmen steht. Sie hat sich umgezogen. Jeans, eine enge Bluse mit langen Ärmeln, die Haare hochgesteckt. Sie zieht einen Küchenstuhl hinter sich her, den sie zwischen Otto und Lotte stellt.
»Komm, setz’ dich her.« Otto springt auf und bietet ihr seinen Sessel an.
Ottilie nickt und versinkt im Wildleder.
Otto dreht den Stuhl verkehrt herum und stützt die Ellenbogen auf die Lehne.
Tom sieht seinem Onkel an, dass er sich in dieser erhöhten Position unwohl fühlt.
Ottilie schaut zu ihrem Vater auf. Große
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