Alles Fleisch ist Gras
zufrieden war, das man ihm zahlen konnte. »Mehr können wir halt nicht zahlen«, hieß es. Warum hatte er zugesagt? Anton Galba ergriff die Gelegenheit wie den rettenden Strohhalm. Er hatte Angst vor einer beruflichen Zukunft, die er sich in den düstersten Farben ausmalte: Konkurrenzdruck, maßloser Stress in irgendeinem Unternehmen, wo er sich in einem Haufen karrieregeiler Intriganten durchsetzen musste, und bei welcher Arbeit? Winzigste Verbesserungen an einem Ausgleichgetriebe zu entwickeln … Kommilitonen, die vor ihm fertig geworden waren, erzählten Horrorstorys aus der deutschen Industrie. Ja, ja, man brauchte sie. Um sie auszuquetschen bis aufs Blut. So hatte er sich die Technik nicht vorgestellt, so hatten sie sich die Technik alle miteinander nicht vorgestellt. Aber Antons Vater bewahrte ihn vor dem beklagenswerten Schicksal, ein Rädchen im Getriebe zu sein, wie er ihn davor bewahrt hatte, uninteressierten Pubertierenden Nachhilfe in Mathematik geben zu müssen. Auf seinen Vater ließ Anton Galba nichts kommen. Beim Thema Familiengründung hatte er endlich Gelegenheit, den heimischen Erwartungen zu entsprechen, und heiratete Hilde, seine Sandkastenliebe, die er ein paar Jahre aus den Augen verloren, wiedergefunden und von sich überzeugt hatte. Hilde hasste Komplikationen und schwierige Verhältnisse. Die hatte sie im Elternhaus erlebt. Sie wollte einen guten, normalen Mann ohne Laster, sie wollte heiraten und sie wollte Kinder. Anton Galba war so ein Mann, er heiratete sie und machte ihr Kinder. Zwei Töchter im Abstand von zwei Jahren. Alles lief gut. Sie kauften ein Grundstück, bauten ein Haus und waren dieMusterfamilie. Hildes trunksüchtiger Vater, der als einziger dunkler Fleck das Rundumglück hätte stören können, erlag rechtzeitig seiner Leberzirrhose, ihre Mutter hatte er schon vor Jahren ins Grab gebracht. Anton Galbas Eltern waren hervorragende Schwiegereltern. Die Mädchen gesund. Im Urlaub flog man auf die Kanarischen Inseln. Die Leitung der Abwasserreinigungsanlage war spannender, als Anton Galba erwartet hatte. Sein Sozialprestige war erstaunlich hoch: Die Leute verstanden, worum es ging; wer nur für fünf Groschen Verstand hatte, musste froh sein, dass es jemanden wie Anton Galba gab, der das Werkl am Laufen hielt – das war ein Mensch, dessen absolute Nützlichkeit für buchstäblich jeden am Tage lag und nicht in Zweifel gezogen wurde. Wer konnte so etwas von sich sagen? Nur sehr wenige. Anton Galba genoss das Gefühl. Er hatte großes Glück gehabt.
Und dann hatte er Helga kennengelernt und damit Glück in einer neuen Bedeutung, nämlich »von Glück erfüllt sein«, nicht nur im Sinne von »Glück haben«. Mit Hilde hatte sich im Lauf der Jahre eine Art gegenseitigen sexuellen Desinteresses eingestellt, das Anton Galba für normal hielt – jetzt wunderte er sich, wie er zu dieser Ansicht gekommen war, denn er hatte mit niemandem darüber geredet, keinen Menschen um Rat gefragt. Bis eben Helga auftauchte. Als eine von fünfundvierzig BewerberInnen um den frei gewordenen Laborposten von Herrn Schmelzig, der es geschafft hatte, mit einer unklaren, sich über Jahre hinziehenden, von einem Büschel Atteste begleiteten Magengeschichte in Invaliditätspension zu gehen. Mit fünfundfünzig. Das Beispiel Schmelzig verdeutlichte, dass man sich, wenn man seine fünf Sinne beieinander hatte, aus den Diensten der Stadt Dornbirn nur in Richtung Ruhestand entfernte und nicht zu einer anderen Firma, wo man den Gefahren der Umstrukturierung ausgesetzt war. Inder Dornbirner Stadtverwaltung wurde nicht so umstrukturiert, dass Leute auf die Straße flogen. Das wussten alle, deshalb gab es ja auch fünfundvierzig BewerberInnen. Sie war unter den zwölf Beschäftigten erst die zweite Frau neben Margot Schneider, seiner Sekretärin. Erst hatte er befürchtet, es werde mit dem anderen Laboranten, Roland Mathis, zu Reibereien kommen; das war ein äußerst gewissenhafter Mensch ohne Kontakte zu den Kollegen, ein pedantischer Arbeiter mit festen Abläufen, in die Anton Galba nie eingriff. Zu seinem großen Erstaunen freundeten sich die beiden Laboranten an; der fünfzigjährige Einzelgänger und die halb so alte weltoffene Frau; man sah Mathis lächeln, wenn ihm Helga etwas erzählte, manchmal lachte er sogar. Dass er überhaupt ein nichtdienstliches Gespräch führte, war schon ein Wunder. Dass die beiden gut miteinander auskamen, fiel ihrem Chef gleich von Anfang an auf; dass er selber mit Helga
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