Alles Zirkus
Bezeichnung wie ehedem, die Arbeit ist eine andere. Erfahrung zählt nicht mehr. Gewalten laugen Stelter aus, von denen niemand weiß, worin sie eigentlich bestehen und was sie tatsächlich wollen. Sie bestimmen jetzt einfach ohne erkennbaren Sinn über das Auf und Ab der Märkte, die gerade eben noch ein anderes Bild als nur das eines anarchischen Schlachtfelds geboten haben. Dann wollen wir doch einmal sehen, denkt er, während er ihrem Broker McIntosh in London die Route für den Nachmittag vorgibt. Stelter geht die Gespreiztheit, vor allem kombiniert mit dem Gossenjargon, zunehmend auf die Nerven. Es ist kurz vor halb zwei, er wirft noch einen Blick auf die Nachrichten, die Bloomberg bereithält, stellt den Computer ab und verlässt das Büro.
Mirko Zabel wartet im Da Michele, über ein Mineralwasser gebeugt. Er hat schon das meiste von dem Brot vor ihm auf dem Tisch verzehrt, als Stelter eintrifft. Sie sind im selben Golfclub und gehen gelegentlich zusammen essen. Irgendwie hat Stelter auch Einfluss darauf nehmen können, dass Zabel mit der Werbung für seine Firma beauftragt worden ist. Dort hat sich herumgesprochen, dass neue Partner gesucht werden, um das Bild aufzupolieren, das ihr Laden vor der Öffentlichkeit abgibt. Stelters Aufgaben sind zwar ganz anderer Art, aber er weiß, wie er einen Hinweis wirkungsvoll zu plazieren hat. Und Mirkos Agentur kann anscheinend gleich ein überzeugendes Konzept vorlegen.
»Wir arbeiten gerade mit voller Kraft an eurem zukünftigen Internetauftritt, du wirst sehen, was das jetzt für ein geschlossenes Ganzes ergibt – prachtvoll auf einem schillernden Hintergrund wie aus Stahl«, sagt Zabel. Sein Kreativdirektor Walter Tomm findet die Idee mit dem silber leuchtenden Fond geschmacklos. Aber diese Angelegenheit liegt in seiner Hand, und er kümmert sich nicht darum, was sein sophistischer Angestellter dagegen einzuwenden hat.
Im Unterschied zu Tomm findet Mirko Zabel auch nichts dagegen einzuwenden, mittags im Restaurant zu sitzen. Seinen Beruf übt er mit unkomplizierter Leidenschaft aus. In der Agentur ist es wieder ziemlich hoch hergegangen – gut so. Begonnen hat es morgens noch halbwegs geordnet, nahezu beschaulich, aber dann ist alles gleichzeitig über sie hereingebrochen an diesem chaotischen Oktobertag, und Zabel hat sein verschwitztes Hemd auswechseln müssen, bevor er zum Essen gefahren ist. Im Büro hängen immer ein paar frische, wie auch ein sauberer, unzerknitterter Anzug. Die Bilder, für die sie einen berühmten Fotografen mit Assistenten und allem, was er benötigte, nach Mauretanien entsandt haben, liegen jetzt vor, und nichts davon ist zu gebrauchen. Walter und er haben sich angeschrien, weil der Mann nicht kapiert hat, dass er ihnen diesmal nichts in der Art einer Modestrecke abliefern kann. Viel Geld verpulvert, die Zeit knapp, der Fotograf beleidigt und nervöse Auftraggeber, denen sie noch überhaupt nichts zeigen können. Von Aufgeregtheit darf man sich nicht anstecken lassen. Mirko Zabel jedenfalls behält dabei einen kühlen Kopf.
»Alle sind jetzt verrückt« bemerkt Stelter. »An der Börse geht es drunter und drüber. Die Banken steigen groß ins Rohstoffgeschäft ein und übernehmen die Lagerhäuser. Bei der zentralen Metallhandelsbörse sind weltweit ungefähr 550 Lager gemeldet, die ihre Daten nach London berichten. Wenn irgendwer die Preise manipulieren will, geht das ganz einfach – er schafft seine Bestände auf den Hof hinaus, statt sie in der Halle zu behalten, und schon sieht es aus wie eine Verknappung. Seit die Banken mitmischen, blickt erst recht keiner mehr durch. Sie ziehen dir förmlich den Teppich unter den Füßen weg. Schneiden dir die Eier ab. Dein Wissen aus langen Jahren nützt gerade mal zum Naseputzen. Eine einzige Erniedrigung, und genau das soll es auch sein. Ebenso gut könnten sie den dämlichsten Anfänger an meine Stelle setzen – ob mit oder ohne Ahnung vom Geschäft, du kannst ohnehin nur noch Fehler machen. Geht es doch noch einmal gut, hast du einfach bloß Glück. Gleich macht in London die Börse weiter, aber am Clearing House , wo sie erst gar nicht aussetzen, geht es rund. Und weißt du was: Auch denen macht es keinen Spaß mehr. Niemandem. Der Druck wächst und wächst und hat das Dasein schon längst so zur Luftnummer aufgeblasen, dass es sich kaum noch vom Vakuum unterscheidet.«
»Ich habe mit Ideen zu tun.« Zabel bemüht sich, mit der letzten Nudel den Rest der Sauce aufzunehmen.
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