Als ein Blumenkohl noch zehn Pfennig kostete
Arzt untersuchte mein Bein und ein paar Tage später operierte er mich. Da war das Bein dann ab, schwuppdiwupp. Andere Deutsche haben mich dann gepflegt und der russische Arzt wechselte jeden Tag den Verband. Es dauerte sehr lange, bis ich wieder aufstehen konnte. Ich schnitzte mir neue Krücken und später sogar ein Holzbein. Auch hatte ich nicht mehr so viele Schmerzen und konnte bald in der Küche helfen. Die anderen bauten eine neue Eisenbahnstrecke. Das machten sie ziemlich gut, und da meinten die Russen, wir sollten doch noch ein bisschen länger bleiben.
Nach langer, langer Zeit fuhren wir mit dem Zug nach Deutschland zurück.“
Mutter rief aus der Küche, wir sollten uns von Opa und Onkel Achim verabschieden. Es wäre Zeit, nach Hause zu gehen.
Endlich lagen wir in den Betten. Mein Bruder meinte auch, dass die Russen ja eigentlich ziemlich nette Menschen wären, wo sie sich doch so gut um Onkel Achims Bein gekümmert hatten.
1966, da war ich acht und mein Bruder neun, erhängte sich Onkel Achim auf seinem Dachboden. Aber das erfuhren wir erst viel später.
Wenn wir Opa immer wieder löcherten, wann Onkel Achim denn käme, meinte er:
„Ach, der Achim, der ist mal wieder auf Reisen. Aber dieses Mal hat er die Fahrkarte selbst gekauft.“
Am Grab
Der Sarg lastete auf den Schultern meiner Onkel und ältesten Cousins. Der Friedhof war schwarz vor Menschen, die gekommen waren, um meinem Opa Ludwig die letzte Ehre zu erweisen. Mein Blick fiel auf meine Mutter, die mit ihrem besten Spitzentaschentuch ihre Augen tupfte. Doch selbst in dieser schweren Stunde musterte sie noch den Sitz meines Rockes und die Sauberkeit meiner Fingernägel.
Verlegen scharrte ich mit den dunkelblauen Lackschuhen in der Erde, was mir sofort eine hochgezogene rechte Augenbraue einbrachte. Im Hochziehen der rechten Augenbraue war Mama einfach unschlagbar.
Das dumpfe Geräusch, mit dem der Sarg in der Grube aufsetzte, erschreckte mich zutiefst. Und jetzt erst begriff ich, wer einmal in der Erde war, der kam nie mehr zurück. Laut schluchzte ich auf und begann dann bitterlich zu weinen. Ein Raunen ging durch die Trauergemeinde.
Ich hörte die Leute murmeln: „Wie schön das Kind doch um seinen Opa weinen kann.“ Und: „Das arme Schätzchen, es ist ja noch so klein.“
Zwei Tage zuvor hatte es angefangen. Da war es ihm auf einmal schlecht gegangen. Er konnte nicht mehr richtig sitzen und essen wollte er auch nichts mehr. Immer wieder versuchte ich, ihm etwas Wasser einzuflößen. Dann war er selbst zum Trinken zu schwach.
Am nächsten Morgen war er tot.
Mutter suchte eine Schuhschachtel, die wurde sein Sarg. Sie kleidete diese ganz mit weicher Watte aus und da lag er dann, wie in einem Bettchen. Wir setzten den Deckel darauf und Mama band eine schöne Schleife um die Schachtel. Obwohl sie ganz andere Sorgen hatte, ging sie mit mir zum Wäldchen und dort begruben wir ihn. Ich hatte ein Stückchen Draht mitgebracht und bastelte ihm aus zwei Stöckchen ein kleines Kreuz.
Viele Menschen schüttelten unsere Hände. Alle betonten, was für ein tapferes, kleines Mädchen ich doch sei. Mama gab mir ein frisches Taschentuch und hieß mich die Nase putzen.
Dann blickte sie mir tief in die Augen, bis auf den Grund meiner Kinderseele. Und es stand in ihren Augen, dass sie es wusste. Sie wusste auch, dass ich wusste, dass sie es wusste.
Mutter trauerte um ihren Vater und ich um meinen kleinen Wellensittich Hansi, dem ich das Sprechen beigebracht hatte. Ich hatte den strengen Opa Ludwig nie besonders gemocht. Mama schaute mich lange an, und ich sah, sie war mir kein bisschen böse.
Theo – ein Nachruf
Als ich Theo das erste Mal sah, war ich wohl so zehn. Er zog ins alte Bahnwärterhäuschen vor unserer kleinen Stadt. Neugierig lugte ich mit meinen Freunden durch den Zaun, in der Hoffnung, er wechsele ein paar Worte mit uns.
Das tat er aber nicht, auch später nie.
Theo war groß und schlank. Er hatte eine ausgeprägte Adlernase und rotblondes Haar, das immer halb von einer Schirmmütze bedeckt war.
Freunde fand er keine, die Kirche mied er genauso wie das Wirtshaus.
Und obwohl ihn jeder kannte und brauchte, so blieb er doch immer ein Außenseiter. Diese Stadt blieb ihm gegenüber gleichgültig.
Uns Kindern flößte er keine Furcht ein, aber wir hatten dennoch gehörigen Respekt vor ihm. Er kannte unsere großen und kleinen Sünden, aber er verriet uns nie.
Die Jahre vergingen, ich beendete die Schule und begann die Lehre in
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