Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
hinunter trieb sie ihn zu einem wilden Galopp an. Sie wußte, es war gefährlich, in einem so halsbrecherischen Tempo zwischen den Bäumen dahinzurasen, wenn es noch nicht hell genug war, um etwas zu sehen, aber es kümmerte sie nicht. Sie trieb den Hengst unerbittlich vorwärts, fluchte heftig und schlug mit den Zügeln auf seinen Hals. Aber das Glück, das sie nicht wollte und um das sie nicht gebeten hatte, war auf ihrer Seite. Zweige peitschten ihr ins Gesicht, und Dornenranken rissen an ihren Beinlingen, als sie so zwischen den Bäumen dahinjagte, doch als der Wald schließlich von Licht erfüllt war, hatte sie mit ihrer wilden Jagd nichts weiter erreicht, als Windtänzer völlig zu erschöpfen.
Keshna zügelte den Hengst, schwang sich von seinem Rücken und setzte sich auf den taufeuchten Boden, wie betäubt vor Schmerz und Kummer. Vor gar nicht langer Zeit hatte sie sich gefragt, ob sie Keru liebte. Jetzt, wo es zu spät war, wußte sie, daß es so war. Was sie am meisten bereute, war, daß sie es ihm nicht gesagt hatte. Menschen wie Luma und Kandar schien es leichtzufallen, die Worte »Ich liebe dich« auszusprechen, aber sie war zu stolz gewesen. Und als sie endlich bereit war, Keru ihre Liebe zu gestehen, war er zu krank, um sie zu hören.
Die feuchten Blätter unter ihren Stiefeln trockneten allmählich, und die Sonne wärmte ihren Rücken. Schließlich stand Keshna müde auf und ging zu Windtänzer, der in der Nähe friedlich graste. Sie saß auf, trieb ihn zu einem gemächlichen Trott an und ritt langsam zum Lager zurück. Ihr graute vor dem, was sie dort erwartete. Die Nomaden würden Keru in der Erde bestatten wollen, und Marrah würde darauf bestehen, seinen Leichnam auf eine Plattform in die Baumkronen zu legen, damit die Vögel ihn zur Muttergöttin zurückbringen konnten. Es würde zu erbitterten Auseinandersetzungen kommen. Dann ging ihr der Gedanke durch den Kopf, daß sie sich nicht in die Sache hineinziehen lassen mußte. Sie könnte einfach wieder umkehren und sich in einem weit entfernten Dorf niederlassen, sich einen anderen Namen zulegen und ein neues Leben beginnen.
Sie war schon fast an der Furt angelangt, da hörte sie ein Pferd in raschem Tempo näher kommen. Sie hielt an und horchte auf den Hufschlag. Es war zweifellos Shalru. Keshna hatte ein gutes Gehör für den Rhythmus. Bald tauchte Luma in ihrem Blickfeld auf. Als sie Keshna sah, zügelte sie ihr Pferd.
»Hier bist du also!« rief sie.
»Ja, hier bin ich«, antwortete Keshna. Sie war nicht in der Stimmung, mit Luma zu reden, aber Luma war ihre beste Freundin, und sie litt bestimmt ebenfalls schrecklich. Sie alle würden so lange um Keru trauern, daß Keshna den bloßen Gedanken daran kaum ertrug. Sie würde es Stavan sagen müssen und Arang und Hiknak und ...
»Warum bist du weggeritten, ohne jemandem zu sagen, wohin du wolltest? Mutter möchte, daß du sofort mit ins Lager zurückkommst.«
»Luma ...« Keshna zögerte einen Moment und traf dann eine Entscheidung. Im Lager würde zuviel Trauer herrschen. Zusätzlich zu ihrem eigenen würde sie Marrahs Schmerz nicht auch noch ertragen. »Ich komme nicht zurück.«
»Du kommst nicht zurück? Aber du mußt zurückkommen! Keru verlangt nach dir.«
Keshna starrte sie verständnislos an. »Was redest du denn da? Keru ist tot.«
»Nein, das ist er nicht.«
»Aber ich habe doch gehört, wie Tante Marrah um ihn weinte.«
»Das war bestimmt Chamnak. Kerus Zustand hatte sich sehr verschlechtert, bevor es ihm allmählich wieder besserging, und als Chamnak sah, wie krank er war, fing sie an zu schluchzen und zu schreien und zerriß sich die Kleider und murmelte irgendwelchen Unsinn darüber, daß Kerus Krieger sie auf seinem Grab opfern müßten, wenn er starb. Mutter brauchte eine Ewigkeit, um sie dazu zu bringen, mit ihrem lauten Wehklagen aufzuhören, aber Keru war zu diesem Zeitpunkt so krank, daß er die ganze Szene verschlief. Vielleicht hat ihm der Schlaf gutgetan, vielleicht hat der Brotbrei schließlich doch geholfen, denn als die Sonne aufging, begann sein Fieber zu sinken, und ...«
Keshna fühlte, daß etwas Leuchtendes über sie hinwegglitt, wie die schillernd bunten Schwingen eines großen Vogels. Das unbändige Glücksgefühl, das in ihr aufstieg, machte sie atemlos.
»Keru ...«, das Wort blieb ihr in der Kehle stecken, »ist nicht ...«
»Nein, das will ich dir doch die ganze Zeit sagen. Es geht ihm viel besser. Er sitzt aufrecht auf seinem Lager und
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