Der letzte Karpatenwolf
Sie lagen im Schatten einer niedrigen, vom Wind zerzausten Kiefer und starrten hinab auf die mit Lehmziegeln gedeckten Dächer des Dorfes.
Sie lagen flach in das hohe Gras gepreßt, die Gewehre schußbereit vor sich, hohlwangig, unrasiert, von der Sonne gegerbt und ausgelaugt, hungrig wie die Wölfe im Dezember. Ihre grauen Uniformen waren verdreckt und zerrissen, die Feldflaschen und Gasmaskenbüchsen zerbeult und verrostet. Nur die Waffen glänzten, gepflegt und geölt.
»Dort gibt's was zu fressen!« sagte Hans Bornemann. Er schnupperte, und es war den anderen, als wehe tatsächlich von den Dächern und den sanft qualmenden Lehmschornsteinen der Duft gebratenen Fleisches zu ihnen hinauf in den schroffen Bergwald.
»Aber wie drankommen?« Willi Kleinhans drehte sich auf den Rücken und sah hinauf in den blauen Augusthimmel. Kleine weiße Wolken trieben nach Westen. Wenn man nicht zur Seite sah auf die ausgemergelten Kameraden und auf die schußbereiten Waffen, wenn man die Augen schloß und nur den Sommer roch, das duftende Gras, die Kiefern, die Bergwiesenblumen, wenn man vor allem nicht daran dachte, daß man seit vierzehn Tagen wie gejagtes Wild vor den russischen Truppen her flüchtete, war es wie auf einer Almwiese bei Garmisch.
Willi Kleinhans biß sich auf die Unterlippe. Deutschland, dachte er. Maria – seit einem halben Jahr hatte sie keine Nachricht mehr von ihm, und die Kinder würden immer fragen: Wo ist denn der Papi?
Als bei Yasi der Russe links und rechts durchbrach und mit seinen Panzerbrigaden die deutschen Linien aufrollte, als die zu einer Handvoll Männer zusammengeschossenen Kompanien den Befehl bekamen: »Geht zurück! Rettet euch! Sucht auf eigene Faust Anschluß an die rückwärtigen Linien!«, hatte Kleinhans noch einmal einen Brief geschrieben: Ihr Lieben, in Rumänien ist der Krieg zu Ende; bald bin ich zu Hause … Ein Brief, der nie abgegangen war, denn zwei Stunden später flüchteten sie in die Karpaten, gejagt wie die Wölfe.
Auf allen Straßen Russen. In den Wäldern sowjetische Patrouillen. In den Dörfern sowjetische Panzer, die auf alles schossen, was sich bewegte. Auf den Karpatenpässen russische Stützpunkte.
Die Welt bestand nur noch aus Russen!
Und inmitten dieser Sturmflut krochen seit vierzehn Tagen vier einsame deutsche Soldaten Nacht für Nacht durch die Wälder, durch die Felsen, schliefen in vom Regen und Sturm ausgewaschenen Höhlen und sammelten Beeren, Wurzeln und Kräuter, aus denen sie in der Höhle über einem winzigen Feuer in den Kochgeschirren eine Suppe kochten.
Michael Peters, der jüngste der vier Landser, achtzehn Jahre, mit einem weichen Gesicht und großen blauen Augen, in denen sich das Nichtverstehen über die schreckliche, veränderte Welt spiegelte, lag hinter dem gebogenen Stamm der Kiefer und hatte nasse Lappen über seinen rechten Fuß gelegt. In den vierzehn Tagen des Hetzens hatte er ihn sich wund gelaufen. Nun hatten sich Ekzeme gebildet, die eiterten und den Fuß dick anschwellen ließen. Wo sie eine Rast machten, benutzte er die Ruhe, den Fuß mit Kompressen zu kühlen.
»Ich muß einen Arzt haben«, sagte er. Sein junges Gesicht mit den blonden Bartstoppeln, die so vereinzelt waren, daß sie aussahen wie Sommersprossen, verzog sich. Der stechende Schmerz in seinem Fuß wurde fast unerträglich. »Wenn ich den Brand 'reinkriege, ist das Bein weg!«
»Und wenn du in die Dörfer gehst, biste selber futsch«, sagte Willi Kleinhans. Er drehte sich wieder auf den Bauch. Anton Haindl, der Bauer aus den bayerischen Bergen, lag unter der Kiefer hinter einem Rucksack und kaute an dem Stengel einer Maispflanze. Sie enthielt so viel Saft, daß der gröbste Durst damit gestillt wurde.
»Ohne Arzt gehe ich drauf!« sagte Michael Peters.
»Das tun wir so oder so. Ist nur 'ne Frage der Zeit … und des Glücks, ob wir die Truppe noch erreichen.«
»In Ungarn«, meinte Haindl.
Hans Bornemann winkte hastig nach hinten. Er hatte den Kopf tief in das hohe Gras gedrückt. Die anderen verstummten sofort.
»Ein Mädchen kommt den Hang herauf«, flüsterte er. »Pst! Sie hat Ziegen bei sich … drei … fünf, sechs … sieben Stück!«
»Ein Madl? Kruzi! Dös muß ich mir anschau'n!« Der Haindl Anton kroch wie eine Riesenschlange neben Bornemann und zog enttäuscht den Kopf zurück. »Dos is ja a Kind!«
Kleinhans legte das Gewehr, das er schon an die Schulter gelegt hatte, zurück ins Gras. »Wir verhungern bald … und der Kerl denkt an
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