Am Anfang war das Wort
wovon ich rede, aber daran bin ich gewöhnt. Es hat mich die ganzen Jahre nicht gestört, daß ich wie ein Schatten gewirkt habe. Glauben Sie, ich hätte nicht gewußt, was die Leute denken? Aber es gibt etwas, was größer ist als wir alle. Und es stimmt, was man Ihnen dort gesagt hat, daß sich die Menschen durch die Kunst über das Nichts der Welt erheben können, wenn man es einfach formulieren will, so habe ich mich ganz dem Echten, Wahren verschrieben. Sie können unmöglich meine Moral verstehen, Sie sind ein Vertreter der Polizei, der blinde Roboter des Gesetzes, Sie können das alles nicht verstehen.«
»Geben Sie mir eine Möglichkeit, es zu verstehen«, sagte Michael ruhig.
Tuwja Schaj schaute ihn zweifelnd an, doch das Bedürfnis zu sprechen nahm nun überhand. »Wissen Sie, warum die Tiere keine Moral haben?« fragte er. »Es stimmt nicht wirklich, daß sie keine Moral haben, sie sind in gewisser Weise moralisch, bei ihnen herrscht ein allem übergeordneter Wert: der Trieb der Arterhaltung. Fragen Sie irgendeinen Genetiker, er wird es Ihnen sofort erklären. Auch die Menschen haben den Trieb, die Art zu erhalten – die menschliche Rasse. Meist drückt er sich in Kindern aus, im Gebären, der Aufzucht der Brut. Es gibt wenige, ganz wenige, die sich dem Wahren hingeben können. Dieses Wahre, das einzig Wichtige in meinen Augen, das die Erhaltung der menschlichen Rasse betrifft, ist die Kunst. Es ist nicht wichtig, ob Tirosch ein positiver oder negativer Mensch war, ob ich ihn geliebt habe oder nicht, das alles ist nicht wichtig und tut nichts zur Sache. Glauben Sie etwa, Nietzsche sei naiv gewesen? Er predigte die menschliche Größe. Auch Nietzsche hätte Tirosch für ein Genie gehalten, und einem Genie stehen besondere Bedingungen zu. Aber als sich herausstellte, daß er kein Genie war, sondern ein mittelmäßiges Geschöpf, mußte ich die Dinge geraderücken. Der Welt zuliebe, den kommenden Generationen zuliebe. Das Geschöpf, das das Heilige besudelt hat, mußte vernichtet werden.«
Michael traute seinen Ohren nicht. Tastend prüfte er nach, ob das Aufnahmegerät wirklich arbeitete, und mit ruhiger Stimme sagte er: »Nun, das ist das alte Dilemma zwischen Kunst und Moral.«
»Ja«, bestätigte Tuwja Schaj und wischte sich mit der Hand über die Lippen.
»Das heißt«, fuhr Michael fort, »wir kehren zu der banalen Frage zurück, ob einem Genie erlaubt sein darf, moralische Gesichtspunkte zu verletzen – zu lügen, zu betrügen und so weiter.«
»Wenn Tirosch ein wirklicher Künstler gewesen wäre«, sagte Tuwja Schaj, »dann wäre es wirklich das wenigste gewesen, ihm meine Frau zu überlassen. Auch mich selbst, wenn er das gewollt hätte, es wäre egal. Die Welt hat ohnehin keine Bedeutung, wenn es keine große Kunst gibt. Sie ist das einzige, was die Menschheit weiterbringt, deshalb hat das Leiden des einzelnen keinen Wert. Ich habe ihn getötet, weil er die Menschheit nicht weitergebracht hat. Nicht nur das, ich habe ihn umgebracht, weil er die große Kunst beschmutzt hat. Mein ganzes Leben habe ich dem Erhabenen gewidmet, das war die Berechtigung für meine Existenz. Das werden nicht nur Sie nicht verstehen, das versteht niemand.« Er hatte mit einem abgrundtiefen Zorn gesprochen.
»Trotzdem«, sagte Michael, »die Gedichte selbst existieren, warum spielen dann Kleinigkeiten eine derartige Rolle? Ist es, Ihrer Argumentation zufolge, wichtig, wer sie geschaffen hat? Warum haben Sie den Künstler angebetet? Sie hätten die Gedichte anbeten müssen.«
Auf Tuwja Schajs Gesicht zeigte sich Ungeduld. »Sie sind weniger klug, als ich dachte«, sagte er und machte eine abfällige Bewegung mit der Hand. Dann schaute er an Michaels Rücken vorbei aus dem Fenster. Michael schwieg und wartete.
»Ich wollte ihm helfen«, fuhr Tuwja Schaj fort. »Ich wollte dasein, damit er die Werke schaffen könne, die ich ihm zutraute. Nicht weil er mein Freund gewesen wäre, sondern weil ich glaubte, er wäre schöpferisch. Als sich herausstellte, daß er das nicht war – daß er auf Kosten der Kunst betrogen hat –, stand ihm kein Platz mehr zu auf der Welt. Er hat die Privilegien des Künstlers genossen, ohne dafür etwas zu geben. Sie verstehen nichts! Er hat sich selbst in den Mittelpunkt gestellt.«
»Aber Sie haben es in einem Anfall von Wut getan, Sie hatten nicht von Anfang an vor, ihn umzubringen. Wie verbinden Sie diese Haltung gegenüber der Kunst, diesen Kreuzzug, mit diesem spontanen
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