Am Anfang war das Wort
wurde immer blasser, je länger Boris sprach. Als das schmerzvolle Stöhnen und die Frage »Was ist das hier?« durch das Zimmer im Migrasch ha-Russim zu hören waren, lehnte sich Michael zurück und betrachtete Tuwja Schaj, bis ihm klar wurde, daß dieser Weg ihn nicht zum Ziel führen würde.
»Sie sehen«, sagte Michael nach einem langen Schweigen, »ich kenne die ganze Geschichte.«
»Was für eine Geschichte?« fragte Tuwja Schaj und preßte die Lippen zusammen.
»Von dem Moment an, als ich die Beweise in den Händen hielt, fragte ich mich nach dem Motiv. Als das Gespräch mit Boris zu Ende war, fragte ich mich, wer der Mensch sei, den dieser Diebstahl mehr als alle andere treffen würde. Wen würde es wirklich verletzen, überlegte ich, so sehr, daß er zu einem Mord getrieben werden könnte. Sie waren die einzige Antwort auf diese Frage. Als mir klar war, wie Sie Ihr Leben – und nicht nur Ihr Leben, sondern auch das Ihrer Frau – ausgelöscht hatten, wie Sie beide zu erloschenen Menschen geworden waren.« Michael sammelte die Blätter, die auf seinem Tisch lagen, und, ordnete sie zu einem Stapel. Er wartete auf eine Reaktion, aber Tuwja Schaj schwieg weiterhin.
»Ich weiß, daß Ido Duda'i mit Ihnen gesprochen und Ihnen die Aufnahme seines Gesprächs mit Singer vorgespielt hat«, sagte Michael. »Ich stelle mir vor, wie Sie sich nach dem Gespräch mit Ido gefühlt haben. Als sich herausstellte, daß Ido ermordet worden war, wußten Sie, wer schuld war. Sie wußten genau, daß Ido mit Tirosch gesprochen hatte, daß es zu einer Konfrontation gekommen war. Aber das erfuhren Sie erst am Donnerstag abend, nach dem Fakultätsseminar. Die Geschichte zerstörte Ido, Sie jedoch nicht. Nur Sie und Ido wußten von dem Plagiat, und das ist das gemeinsame Verbindungsglied zwischen den beiden Fällen, dem Mord an Tirosch und dem Mord an Ido. Das Plagiat. Bei der Konfrontation mit Ido leugnete Tirosch und behauptete, daß nur ein Verrückter so etwas behaupten könne. Ido hat sich an Sie gewandt, damit Sie ihm bei dem Beweis helfen, schließlich stellt sich nicht jeden Tag heraus, daß ein Preisträger ein Betrüger ist.« Michael blätterte vorsichtig in seinem Papierstapel.
Tuwja Schaj schaute ihn an, sagte aber kein Wort.
»Einmal, vor vielen Jahren«, sagte Michael langsam, »kannte ich eine junge Frau, die Philosophie studiert hat.«
Tuwja Schaj beobachtete ihn geduldig.
»Diese Frau nun«, fuhr Michael fort, jedes Wort sorgfältig abwägend, »studierte Kant. Sie liebte Kant sehr. Da kann man sagen, was man will, er war ein großer Mann, nicht wahr?«
Tuwja Schaj warf ihm einen erstaunten Blick zu und nickte vage.
»Ich erzähle Ihnen das nicht wegen der Philosophie«, sagte Michael, »sondern weil es mit Ihrem Fall zu tun hat.«
»Das denke ich mir«, meinte Tuwja Schaj skeptisch.
»Diese Frau klopfte eines Tages bei mir an die Tür und sagte weinend, daß Kant recht habe. Sie sagte auch, alles sei ganz klar, und sie sprach über die Idee der Objekte. Verstehen Sie was davon?«
Ein Irrtum war ausgeschlossen. Auf Tuwja Schajs Gesicht zeigte sich ein neuer Ausdruck, zwischen Interesse und Verwirrung. Er bewegte sich auf seinem Stuhl.
»Ich habe damals verstanden«, fuhr Michael vorsichtig fort und achtete darauf, seiner Stimme einen freundschaftlichen, undramatischen Ton zu geben, »daß es Menschen gibt, die abstrakte Dinge wie Philosophie verinnerlichen, daß sie sie so stark verinnerlichen, daß ihr Leben dann davon bestimmt wird.«
Tuwja Schaj schwieg, doch Michael wußte, daß er jedes Wort hörte.
»Sie wissen das«, stellte Michael fest, »aber ich konnte mich damals nicht entscheiden, ob sie einfach verrückt geworden war ... «
»Sie war nicht verrückt geworden«, sagte Tuwja Schaj mit einer Entschiedenheit, die er noch nicht einmal bei dem Fakultätsseminar gezeigt hatte, das Michael vom Film kannte.
»Ich frage mich auch«, sagte Michael und fühlte, wie sein Mund trocken wurde, »ob Sie verrückt geworden sind.«
Die blassen Wangen seines Gegenübers röteten sich, die Lippen begannen zu zittern.
»Verstehen Sie«, sagte Michael Ochajon und beugte sich vor, »wenn ich an das Gefühl denke, das jemand gehabt haben muß, der sein Leben, seine Frau, seine ganze Existenz einem einzigen Menschen geweiht hat und plötzlich mit leeren Händen dasteht – glaube ich, daß er nur noch verrückt werden kann, die Kontrolle über seine Handlungen verlieren.«
»Blödsinn«, sagte Tuwja Schaj
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