Das Mädchen aus Bernau: Historischer Roman (German Edition)
1
Die Nacht, in der Magda sich vor sich selbst zu fürchten begann, zog düster herauf und folgte einem Tag voll Unfrieden. Bis zu jener schwarzen Nacht zu Michaelis hatte Magda bereits jahrelang mit ihrer Eigenheit gelebt, ohne jemanden in Schrecken zu versetzen oder auch nur für Verblüffung zu sorgen.
Als sie vor dem Morgengrauen aus einem qualvollen Schlaf schreckte, war sie in eisigen Schweiß gebadet, und die Decke wärmte sie nicht, so fest sie sie auch um sich schlang. Ihr Herz raste vor Entsetzen. Endlich zwang sie sich, die Reste der bodenständigen Vernunft, die ihr als Brandenburgerin im Blut lag, zusammenzuklauben und sich aufzusetzen. Statt weiter unter der durchnässten Decke zu zittern, stieß sie sie von sich und legte sich ihr Schultertuch um.
Erinnere dich , befahl sie sich. Es war nur ein dummer Traum, wie es die vielen Male zuvor nur ein Traum war. Es ist unmöglich, in die Zukunft zu schauen, allein Gott kann das, kein törichtes Mädchen aus Bernau . Mühsam, umwallt von Nebeln des Schlafes, versuchte sie, die Nächte heraufzubeschwören, in denen der Traum sie gequält hatte. Mit aller Kraft klammerte sie sich an die Hoffnung: Wenn sie feststellte, dass nicht jedes Mal am Tag darauf das eine, das Entsetzliche geschehen war, dann hatte sie den Beweis, dass dieser Traum keine Prophezeiung war. Dann war sie gerettet, und ihr Leben, wie sie es kannte, wäre nicht auf alle Zeit zerstört.
Als die Träume sie zum ersten Mal heimsuchten, war sie mit ihren dreizehn Jahren noch beinahe ein Kind gewesen, und ihr Vater hatte noch gelebt. Er war ein Abenteurer, einer von denen, die um ihr Leben spielten wie andere an den Würfel- und Kartentischen auf dem Markt um Pfennige. Ein Getriebener war er, der mit seinem Bündel den Weg hinunterzog, ein Lächeln aufsetzte und winkte, aber auf die Frage: »Wann kommst du wieder?«, keine Antwort wusste.
In den ehrbaren Bierbrauerhaushalt war er nicht geboren worden, und recht eingefügt hatte er sich nie. Statt den Brauprozess zu überwachen, wie es die Zunft ihm gebot, verlegte er sich aufs Reisen. Kaum war er angekommen, brach er schon wieder auf. Die ständigen Fahrten galten angeblich dem Verkauf des Bieres, den er nicht angestammten Händlern überlassen mochte. Schließlich verscherbelten die Bremer wie die Bayern ihr Gebrautes bereits bis nach Flandern, und musste das Bier aus Brandenburg sich etwa dahinter verstecken?
Mitnichten musste es das! Gerade das Bier der Bernauer, das würzigste und haltbarste der ganzen Mark, konnte jedem Gerstensaft im Reich das Wasser reichen. Weshalb sollte Magdas Vater also nicht reisen, um in der Fremde neue Liebhaber für jenen goldenen Tropfen zu gewinnen, dem Albrecht, der erste Markgraf Brandenburgs, eine Stadt gewidmet hatte? Und dass Reisen gefährlich war, wusste jedes Kind. Als Magda darum eines Morgens der Barbara, des Großvaters lediger Schwester, erzählte, sie habe geträumt, der Vater habe sich durch die niedrige Tür in ihre Kammer gezwängt und gesagt, er wolle von ihr Abschied nehmen, wunderte die sich kein bisschen.
»Ein Segen, dass er wenigstens im Traum Manieren zeigt wie ein Christenmensch«, erwiderte sie und schickte Magda mit einem liebevollen Klaps an den Kessel mit der Maische zurück. »Viel auf Träume zu geben, ist verlorene Liebesmüh, mein Kälbchen. Man träumt wohl manchmal, was man sich klammheimlich wünscht, aber das heißt noch lange nicht, dass man es bekommt.«
Es war das erste und zugleich das letzte Mal, dass Magda mit einem Mitglied ihrer Familie über ihre Träume sprach.
Noch vor dem Abend wurde die Leiche des Vaters gefunden, am Weg, der vom Waldrand durch das Moor bis vor Bernaus Stadttor führte und den er immer heraufgekommen war. Raubritter hatten ihn überfallen und ihm die Kehle der Länge nach durchschnitten – und das nur des Fuhrwerks wegen und ein paar Proben Bier. Solche Verbrechen geschahen häufig, seit Markgraf Waldemar im Sommer gestorben war und seine Mark in Aufruhr und Verwirrung zurückgelassen hatte. Viele behaupteten auch, der Ritterstand sei schon viel länger verkommen und verwahrlost, nämlich seit es im Reich keinen Kaiser mehr gab.
»Als Gott von der Erde gegangen ist«, pflegte der Großvater zu schimpfen, »hat er zwei Schwerter drin stecken lassen, damit Recht und Ordnung herrschen. Das eine ist der Kaiser und das andere der Papst, und wenn das eine fehlt oder das eine mit dem andern wie ein Marktweib Gezänk anfängt, dann klafft ein Loch,
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