Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)
wissenschaftliches Werk, der Wissenschaftler selbst dagegen bleibt geradezu leblos. Die einen blenden Wallace’ paradoxe Seiten, insbesondere den Spiritualismus, möglichst aus; andere verlieren sich ganz in psychologischen Spekulationen, ohne das spezifische gesellschaftliche und wissenschaftliche Umfeld im viktorianischen England zu berücksichtigen.
Der neue Wallace
Im Französischen kennt man den Ausdruck »un homme nécessaire« zur Beschreibung einer historischen Gestalt, die im rechten Moment die Bühne der Geschichte betritt. Alfred Russel Wallace verkörpert solch einen notwendigen Charakter in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Notwendig, um Darwin gewissermaßen auf die Sprünge zu helfen; doch notwendig auch für uns heute, um die Entdeckung des Evolutionsgedankens mit all seinen feinen Verästelungen vollständig verständlich zu machen.
Dies hier nun ist die Geschichte des neuen, wahren Wallace. Er war nicht nur ein naturkundlicher Amateur und waghalsiger Abenteurer, nicht nur der andere Käfersammler neben Darwin, der bei seinen Sammelreisen zufällig auf die Theorie der Selektion stieß; der in einem Wettlauf um die Entdeckung der Evolution Darwin zwar anspornte, dann aber den Kürzeren zog. Gerade wer Wallace nur verkannt und vergessen als Darwins Alter Ego, gleichsam als eine Art Doppelgänger im Schatten Darwins sieht, ihn als dessen Mond immer nur um diese zentrale Lichtgestalt der Naturforschung im viktorianischen Zeitalter kreisen lässt, der marginalisiert ihn. Wallace jedoch gilt gänzlich zu Unrecht als ein Hinterbänkler der Historie; er besetzt nicht etwa nur die zweite Reihe in der Garde großer Geister.
Vielmehr ist er eine weitaus komplexere Persönlichkeit als bislang dargestellt; sein Denken war vielschichtiger und sein Werk umfangreicher, als es bisher je einmal gewürdigt wurde. Kein Wunder bei 22 Büchern und mehr als 760 Fachartikeln. Zudem schrieb er neben naturkundlichen Arbeiten über ein erstaunlich breites Spektrum – vom Darwinismus und Spiritualismus über die Lebensmöglichkeit auf dem Mars bis hin zur weltweiten Handelkrise, Pockenschutzimpfung und zu der Erneuerung der Demokratie. Wallace sei ein »wonderful creative thinker« gewesen, hat Ernst Mayr – selbst ein berühmter Naturforscher und Evolutionsbiologe – einmal über ihn gesagt; »generous to a fault and full of ideals«, eine »truly loveable person« – großzügig, voller Ideale und überaus liebenswert. Wohl wahr. Aber der kreative Wallace hat auch sein Geheimnis. Er ist ruhelos und unorthodox, in vielen Lebenslagen; er verachtet und missachtet Konventionen, und wenn es sich nur um Verbotsschilder handelt, hinter denen er soziale Ungleichgewichte sieht. Weder in politischen noch in religiösen Dingen vermag er – anders als Darwin – zu schweigen. Doch, so die These im vorliegenden Buch, just jenes mutige und unkonventionelle Denken, das Wallace einst die Evolution entdecken ließ, führte ihn später auch auf unsicheres Terrain und entlang abseitiger Wege.
All dies sind Gründe genug, sich das Leben, Werk und Wirken des verwegenen Naturforschers Alfred Russel Wallace näher anzusehen; denn er weist uns den Weg zu einem besseren Verständnis der Evolutionstheorie und zu jenem Denken, das zur Aufklärung der dynamischen Vorgänge und Veränderungen in der Natur und zur Entstehung auch des Menschen führte.
Aru. Oder:
Am Ende des Archipels
(Januar–Juli 1857)
Von allen Etappen seiner großen Reise durch den Archipel sollte diese die erfolgreichste werden, einträglich in vielerlei Hinsicht, ein Fest für den Forscher und ein Ausflug in eine wahre Märchenwelt voller Wundertiere, die kaum ein Naturkundiger vor ihm sah. Er sollte Menschen mit schwarzer Haut und krausen Haaren begegnen, fremder, als er sie je zuvor erlebt hat; anders als er selbst und auch als jene, denen er weiter westlich einer geradezu magischen Linie begegnet ist. Hier sollte er ebenso eigenartige wie seltene Vögel, Schmetterlinge, Käfer und andere Insekten entdecken; eigenständige Formen, die nur hier leben, anderswo aber fehlen. Zwar würde er auch Arten finden, die in benachbarten Regionen vorkommen; nur sahen selbst diese hier etwas anders aus, waren verschieden gefärbt und gezeichnet. Hier auf den Inseln am Ende des Archipels stößt er in unbekannte Regionen vor, als Reisender wie als Denker; hier fügen sich seine akribischen Beobachtungen und Befunde schließlich zu einem Ganzen, einem generellen Naturprinzip. »Neue
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