Das zweite Zeichen
»Versteck dich!«
Er kreischte jetzt, war völlig außer sich. Aus seinem Gesicht war alle Farbe gewichen. Sie stand
oben an der Treppe, und er stolperte auf sie zu. Dann packte er sie an den Armen und stieß sie
mit unkontrollierten Bewegungen die Treppe hinunter, so dass sie Angst hatte, sie würden beide
stürzen. Sie schrie.
»Ronnie! Vor wem soll ich mich verstecken?«
»Versteck dich!«, kreischte er wieder. »Versteck dich! Sie kommen! Sie kommen!«
Er hatte sie jetzt bis zur Haustür gestoßen. Sie hatte ihn schon ganz schön kaputt erlebt, aber
noch nie in einem solchen Zustand. Ein Schuss würde ihm helfen, das wusste sie. Und sie wusste
auch, dass er den Stoff in seinem Zimmer hatte. Schweiß tropfte ihm aus den zotteligen
Haaren.
Erst vor zwei Minuten war die wichtigste Entscheidung in ihrem Leben gewesen, ob sie den Gang in
das völlig versiffte Badezimmer ihres besetzten Hauses wagen sollte. Doch nun...
»Sie kommen«, wiederholte er, seine Stimme war nur noch ein Flüstern.
»Ronnie«, sagte sie, »du machst mir Angst.«
Er starrte sie an. Beinahe schienen seine Augen sie zu erkennen. Dann sah er wieder weg, in eine
Ferne, die allein ihm gehörte. Da waren die Worte wieder. Sie klangen wie das Zischen einer
Schlange.
»Versteck dich.« Gleichzeitig riss er die Tür auf. Draußen regnete es, und sie zögerte. Dann
gewann die Angst die Oberhand. Doch als sie über die Schwelle treten wollte, packte er sie am Arm
und zerrte sie ins Haus zurück. Er umarmte sie, sein Schweiß schmeckte salzig wie Meerwasser,
sein Körper bebte. Sein Mund war dicht an ihrem Ohr, sein Atem heiß.
»Sie haben mich ermordet«, sagte er. Dann, in einem plötzlichen Anfall von Raserei, gab er ihr
wieder einen Stoß. Diesmal war sie draußen, die Tür knallte zu und ließ ihn allein im Haus
zurück. Allein mit sich selbst. Sie stand auf dem Gartenpfad, starrte auf die Tür und versuchte
zu entscheiden, ob sie klopfen sollte oder nicht.
Es käme doch auf das Gleiche heraus. Das wusste sie. Also fing sie stattdessen an zu weinen. Ihr
Kopf kippte in einem seltenen Anflug von Selbstmitleid nach vorn, und sie weinte eine ganze
Minute lang, bevor sie dreimal tief durchatmete, sich umdrehte und rasch den Gartenweg (oder wie
man diesen Unkraut überwucherten Pfad nennen wollte) hinunter ging. Irgendwer würde sie schon
aufnehmen. Irgendwer würde sie trösten, ihr die Angst nehmen und ihre Kleider trocknen.
So war es immer gewesen.
John Rebus starrte gebannt auf seinen Teller, ohne auf das Gespräch am Tisch um ihn herum zu
achten, auf die Hintergrundmusik oder die flackernden Kerzen. Die Häuserpreise in Barnton
interessierten ihn im Grunde nicht, auch nicht der neue Feinkostladen, der auf dem Grassmarket
eröffnet werden sollte. Er hatte überhaupt keine große Lust, sich mit den anderen Gästen zu
unterhalten einer Dozentin zu seiner Rechten und einem Buchhändler zu seiner Linken über...
nun ja, worüber auch immer sie gerade geredet hatten. Doch, es war eine perfekte Dinner-Party.
Das Gespräch war genauso penetrant wie die Vorspeise, und er war froh, dass Rian ihn eingeladen
hatte. Natürlich war er das. Aber je länger er auf den halben Hummer auf seinem Teller starrte,
umso mehr wuchs ein Gefühl vager Verzweiflung in ihm. Was hatte er schon mit diesen Leuten
gemein? Würden sie lachen, wenn er die Geschichte von dem Polizeihund und dem abgetrennten Kopf
erzählte? Nein, das würden sie nicht. Sie würden höflich lächeln, dann die Köpfe über ihre Teller
beugen und sich sagen, dass er eben... anders war als sie.
»Gemüse, John?«
Es war Rians Stimme, die ihn tadelte, dass er nicht »mitmachte«, sich nicht »unterhielt«, noch
nicht mal Interesse zeigte. Lächelnd nahm er die große ovale Schüssel entgegen, wich jedoch ihrem
Blick aus.
Sie war eine nette Frau. Auf ihre Art sogar recht attraktiv. Knallrotes Haar zu einem Pagenkopf
geschnitten. Tiefgründige, unglaublich grüne Augen. Dünne, aber viel versprechende Lippen. O ja,
er mochte sie.
Sonst hätte er ihre Einladung nicht angenommen. Er fischte in der Schüssel nach einem Stück
Broccoli, das nicht sofort in tausend Stücke zerfallen würde, sobald er versuchte, es auf seinen
Teller zu manövrieren.
»Es schmeckt fantastisch«, sagte der Buchhändler, und Rian nahm das Kompliment lächelnd entgegen,
wurde sogar leicht rot dabei. So einfach war das, John. Das war alles, was man sagen musste, um
diese Frau glücklich zu
Weitere Kostenlose Bücher