Am Fuß des träumenden Berges
Strahlen die sanften Farben.
Audrey stand lange am Fenster. Sie blickte nicht hinaus, sie war blind für die Schönheit der Natur und taub für das Zwitschern der Vögel, für das sanfte Rauschen des Meers hinter den Dünen. Sie sah nicht diesen stillen Morgen, sondern hörte nur das grelle Lärmen eines heißen Sommertags.
Zwei Monate war das nun her. Seitdem hatte nichts ihren Schmerz lindern können.
Schließlich kleidete sie sich sorgfältig an und verließ ihr Zimmer unterm Dach des großen Pfarrhauses. Sie schlich an den Schlafzimmern ihrer Eltern und der Geschwister im Obergeschoss vorbei, und auf der alten Holztreppe ließ sie die eine Stufe aus, von der sie wusste, dass sie knarrte.
In der Küche war es noch ruhig. Sie heizte den Herd an, schob Scheite nach und wartete, bis das Feuer munter brannte. Dann füllte sie den Teekessel, stellte ihn auf die Herdplatte und löffelte Teeblätter in die Kanne mit der angeschlagenen Tülle. Sie legte die Hand auf die Wand des Teekessels und spürte die Wärme. Wärme, die zu Hitze wurde.
Audrey wandte den Kopf und schaute aus dem Fenster. Vorbei an dem Bord mit Zucker und Teedose, mit Kaffeemühle und angeschlagenen Bechern. Vorbei an der Tüllgardine und den Kräutern auf dem Brett. Sie sah nichts davon, sie spürte nur die Hitze, die sich langsam in ihre Handfläche fraß und den Arm hinaufstieg. Sie fröstelte dennoch.
Aber sie ließ nicht los. Es war eine Prüfung. Wie viel Schmerz hielt sie aus?
Erst als hinter ihr ein leiser Schrei erklang, fuhr sie herum. Millie war sofort neben ihr, packte ihre Hand und riss sie weg.
«Kind, pass doch auf!»
Audrey sah erstaunt die Brandblasen, die auf ihrer Handfläche erblüht waren.
«Warum tust du so was?», schimpfte das Dienstmädchen. Kopfschüttelnd zog sie Audrey am Handgelenk zum Wassereimer und zwang ihre Hand in das kalte Wasser.
Audrey sog scharf die Luft ein. Für den Moment war dieser Schmerz sogar noch köstlicher, noch tiefer als der am Wasserkessel.
Millie blickte sie streng an. «Lass die Hand im Wasser», ermahnte sie Audrey. Sie trat an den Herd, packte den pfeifenden Kessel mit einem Handtuch am Griff und goss das sprudelnd kochende Wasser über die Teeblätter. Dann schob sie den Kessel zurück auf den Herd. Sie schaute in die Teekanne und schüttelte den Kopf. «Versteh nicht, wieso du so was machst», meinte sie.
«Was mach ich denn?», fragte Audrey leise. Ihre Knie zitterten, und ihr war eiskalt.
«Würde ich dich nicht besser kennen, würde ich meinen, du wärst verrückt geworden. Bleib da, hörst du? Kühl die Hand, dass es keine Narben gibt. Ich hole das Lavendelöl aus dem Nähkästchen deiner Mutter.»
Vielleicht bin ich das ja, dachte Audrey. Verrückt vor Schmerz, verrückt vor Angst. Denn das war das Schlimmste. Sie fürchtete die Zukunft, die nichts mehr bereitzuhalten schien für sie, jetzt, da sie alles verloren hatte.
Mit einem Ruck stieß Millie sich vom Herd ab. «Naja, ist nicht meine Sache. Dein Vater wird nicht erfreut sein, wenn er das sieht.»
Wenn er überhaupt noch was sieht, dachte Audrey.
Für ihn war sie so gut wie unsichtbar, nicht nur für die Leute auf der Straße, die sie schnitten.
Natürlich erfuhr ihr Vater davon. Millie konnte es ihrer Mutter nicht verheimlichen, und die trug es gleich weiter. Am frühen Nachmittag ließ er nach ihr schicken.
Audrey hielt die rechte mit der linken Hand umklammert, als sie vor seinem Arbeitszimmer stand. Millie hatte die Brandblasen mit Lavendelöl bestrichen und anschließend einen Verband angelegt, unter dem die Haut puckerte und pochte.
Die Tür zum Arbeitszimmer war geschlossen, wie immer, wenn er nicht gestört werden wollte. Er schrieb vermutlich an der Sonntagspredigt oder war damit beschäftigt, seine naturkundliche Sammlung zu sortieren. Er war ein viel beschäftigter Mann, der die häuslichen Belange gewöhnlich seiner Frau überließ. Wenn er eines seiner Kinder zu sich zitierte, dann nur, weil es etwas angestellt hatte.
Sie atmete tief durch und klopfte an. Mit der rechten Hand, der schmerzenden.
«Herein!»
Sie trat ein, schloss die Tür und blieb stehen.
Ihr Vater saß hinter dem wuchtigen Schreibtisch, die Brille auf die Nasenspitze geschoben und einen Kasten mit Gesteinsproben vor sich auf dem Tisch. Die Sonne schien durch die hohen Fenstertüren hinter seinem Rücken und ließ die Haare wie ein silbriger Heiligenschein glänzen. Er schaute nicht auf, sondern sagte nur: «Setz dich,
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