Am Fuß des träumenden Berges
fremd. Tapfer sprach sie weiter. «Wo ihr mich auch hinschickt, ich werde gehen, ohne mich zu beklagen.»
«Wir wollen dich doch nicht wegschicken, Audrey.» Er seufzte. Sein Zögern, sein Suchen nach den richtigen Worten in einem Irrgarten, in dem es nur die falschen zu geben schien, ängstigte sie mehr als alles andere. Ihrem Vater fehlten die Worte nicht, sie fielen ihm zu. Er war darin geübt, etwas auszudrücken. Jeden Sonntag hielt er seine Predigt von der Kanzel der Kirche, und jeden Sonntag bewunderte sie ihn für seine rhetorischen Meisterleistungen, mit denen er eine ganze Gemeinde in Bann hielt.
Und jetzt rang dieser Mann, sonst nie um ein Wort verlegen, um die richtigen Formulierungen?
«Wir möchten einfach, dass du glücklich wirst.»
Sie schwieg.
Das war ich doch, dachte sie. Bis ich mir dieses Glück selbst zerstört habe.
Eine kleine Unachtsamkeit hatte alles kaputt gemacht.
«Ich weiß, das wird nicht einfach», fügte er hinzu. «Aber das Leben bietet dir sicher eine zweite Chance. Wenn du es nur versuchen möchtest.»
Sie wollte es aber nicht versuchen.
Weil sie weiter so verbissen schwieg, zog ihr Vater aus einem Stapel Korrespondenz ein dünnes Briefchen hervor. «Mein Studienkollege Reginald – du erinnerst dich vielleicht an ihn, er hat uns vor Jahren einmal besucht – hat mir geschrieben. Er hat einen Neffen, der vor acht Jahren nach Afrika gegangen ist.»
Er hielt ihr den Brief hin. Audrey trat vor und nahm ihn. Kein Absender, kein Empfänger. Stempel und Briefmarke fehlten ebenfalls. Der Brief war einem anderen beigefügt worden.
«Er meint, im Protektorat Ostafrika gebe es nur wenige Frauen, und sein Neffe denke jetzt wohl darüber nach, zu heiraten und eine Familie zu gründen.»
Weil Audrey immer noch schwieg, fügte ihr Vater hinzu: «Er heißt Matthew.»
Sie nickte mechanisch.
War es so einfach? Konnte ein dünner Brief über ihre Zukunft entscheiden?
«Du musst das nicht tun», fügte er hinzu. Sie lächelte schwach und drehte den Brief in den Fingern. «Wenn du ihn nicht magst, ist dir keiner drum böse. Wir möchten nur, dass du es versuchst.»
«Das werde ich.»
«Danke. Das war alles.»
Er nickte bekräftigend, und als sei ihm der Gedanke nachträglich gekommen, fügte er hinzu: «Und bitte hör auf, dich zu verletzen. Du tust deiner Mutter und mir damit weh.»
Audrey nickte. Sie verließ das Arbeitszimmer ihres Vaters. Der Brief des Fremden knisterte in ihrer Hand. Sie blieb im Gang vor dem Zimmer stehen und drückte ihn an die Brust. Vielleicht war das hier ein Anfang. Einen winzigen Moment lang erlaubte sie sich die Vorstellung, dieser Brief könnte tatsächlich ihre Rettung sein. Vielleicht war dieser Matthew ein guter Mann, vielleicht war er nicht gar so alt.
Sie atmete tief durch, faltete den Brief auseinander und überflog die Zeilen. Dann lächelte sie.
Seine Worte gefielen ihr. Er klang nett und gebildet, und die knappe Seite genügte, ihr Interesse an ihm zu wecken. Wer war er, dass er auf eine Frau hoffte, die bereit war, alles hinter sich zu lassen, um einen Fremden zu heiraten?
Er hatte es sicher auch nicht leicht.
Sie ging nach oben in die Dachkammer, rückte den schmalen Schreibtisch vor die Luke, wischte den Staub ab und holte ihr Schreibzeug hervor. Er suchte eine Frau? Vielleicht war sie ja wirklich die Richtige.
Mehr als die Hoffnung hatte sie ja nicht.
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2 . Kapitel
Der Sommer zog sich zurück und machte einem goldenen Herbst Platz, dem ein eisiger Winter folgte. Der Frühling aber brach mit Macht über den Osten Englands herein, und schon im März konnte Audrey wieder draußen auf der Bank sitzen. Sie hielt ihr wintermüdes, blasses Gesicht der Sonne entgegen. Schon erblühten die ersten, winzigen Sommersprossen auf der Nase und den hohen Wangenknochen. Ihre Mutter schimpfte und legte ihr einen großen Hut auf die Bank neben die Bücher. Aber Audrey wollte keinen Hut. Sie wollte die Sonne spüren. Die Sonne, die in ihr das Gefühl weckte, lebendig zu sein.
Den Winter hatte sie mit Büchern verbracht. Ihr Vater hatte ein großes Bücherpaket aus London kommen lassen, das sie zunächst nicht angerührt hatte. Doch als ihr das Warten zu lang wurde, begann sie, in den schmucken Bänden zu blättern, und schließlich las sie.
Aber nie verpasste sie den Postboten. Er kam morgens gegen halb elf die Straße entlang. Schon von weitem hörte sie das Liedchen, das er tagein, tagaus pfiff. Sie sprang auf, eilte ans
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