Am Grund des Sees
Fünf Bilder blieben übrig. Sorgfältig ausgesuchte Porträts.
Als ein zweiter Brief eintraf, war Tommi bereit. Er hatte in seinem Gästezimmer, oben unter dem Dach, eine Wand frei gemacht. Jetzt schaffte er sämtliche Möbel hinaus, montierte sogar die Deckenlampe ab. Zurück blieben eine nackte Glühbirne, drei weiße Wände mit den Schmutzrändern der abgehängten Bilder und eine vierte Wand - die mit dem Fenster zum Staudamm -, an der er die Fotos befestigte.
Ein paar Tage lang hielt er sich immer nur wenige Minuten im Dachzimmer auf. Jeden Abend, wenn er von der Arbeit heimkam, ging er hinauf. Er sah sich die Fotos an, dann ging er wieder hinunter und machte sich Abendessen.
Manchmal rauchte er eine Zigarette, während er die fünf Gesichter betrachtete. Oder er nahm sich ein Glas Weißwein mit hinauf, oder ein Päckchen Chips. Nach und nach verbrachte er immer mehr Zeit in dem leeren Zimmer. Inzwischen starrte er die Gesichter nicht mehr nur an, sondern begann, sich einen Plan zurechtzulegen. Doch er schrieb keine Zeile davon auf, sprach kein Wort laut aus.
Dann kam Weihnachten. Der geplante Ausbau des Stausees begann Wirklichkeit zu werden, die Leute im Dorf redeten. Im Dezember waren auch die letzten Auseinandersetzungen zwischen den Parteien im Großen Rat beigelegt. Im Januar erhielt er wieder einen Brief, in dem die Behörden mitteilten, das im Eigentum von Herrn Tommaso Porta befindliche Grundstück habe einen Marktwert von zwanzigtausend Franken.
An diesem Abend nahm Tommi zwei Beistelltischchen und ein paar Kerzen mit ins Dachzimmer. Die Tischchen stellte er rechts und links neben den Fotos an die Wand. Dann zündete er zwei Kerzen an, steckte sie je in einen Kerzenständer und stellte einen auf jeden Tisch; das sah aus wie ein Altar. Die Glühbirne an der Decke schaltete er nicht ein; die Kerzen schienen ihm intimer, verschwiegener.
Er ließ den Blick hin und zurück über die Reihe der Gesichter wandern, die ihn von der Wand anstarrten. Der Bürgermeister Giovanni Pellanda. Der geachtete Ingenieur Alessandro Vassalli. Desolina Fontana. Andrea Porta - ein Jugendbild. Und auf einem Foto aus neuerer Zeit das hagere Gesicht von Elia Contini.
Tommi streckte die Hand nach einem der Fotos aus. Er betrachtete es mit halb geschlossenen Augen.
»Mach dich bereit«, flüsterte er. »Sei auf der Hut, Freund, jetzt ist es so weit. Morgen musst du bereit sein.«
Und in rauem, fast zärtlichem Ton fügte er hinzu: »Denn morgen bist du tot, verstehst du … Morgen bring ich dich um.«
2
Die Gedanken einer Statue
Elia Contini widmete sich dem Anblick einer verliebten Frau. Ob es ein fröhlicher oder trauriger Anblick war, hätte er nicht sagen können, er beobachtete nur. Mit aller gebotenen Diskretion, versteht sich: Dafür wurde er bezahlt. Um herauszufinden, in wen und, vor allem, wie sehr Signora Elisa Rovelli verliebt war.
Von der Via Praella bis zum Kreisel verringerte Contini den Abstand zwischen ihren beiden Wagen. Denn gerade die Übergänge - eine Abzweigung, ein Kreisverkehr, eine Kreuzung - waren die kritischen Momente, in denen man häufig den Kontakt verlor. Und er wollte auf Nummer sicher gehen. Er hatte das Gefühl, dass seine Chance, nach zwei, drei Tagen ergebnisloser Beschattung, diesmal gekommen war. Signora Rovelli hatte gegen ihre morgendliche Routine verstoßen und sich um neun Uhr mit dem Audi A6 ihres Ehemannes in Lugano auf den Weg gemacht. Contini war ihr auf der Autobahn bis zur Ausfahrt Richtung Mendrisio gefolgt.
Es war ein kalter Vormittag, der Himmel von einem kompakten Weiß, das wie eine feste Wand wirkte; die Fahrzeuge und die Münder der Passanten stießen Dampfwolken aus. Elisa Rovelli parkte ihr Auto und ging zu Fuß die ansteigende Via Lavizzari hinauf. Contini setzte seinen Hut auf, versenkte die Hände in den Taschen und folgte ihr schlendernd, wie einer, der nichts zu tun hatte.
Ehemänner, die alles über ihre Gattinnen wissen wollen, sind die Rettung der Privatdetektive. Geier sind wir, dachte Contini. Das ist unsere Arbeit: uns im Schatten verstecken und heimlich die Liebe fotografieren.
Oben angelangt, bog Elisa Rovelli nach links und blieb auf dem Platz vor der Kirche stehen. Contini mimte Interesse an der Statue, die am Fuß der Treppe stand: eine männliche Gestalt, die aussah, als sei sie schon vor ihrer Statuenwerdung steinern gewesen. Ein stolzer Blick, empor und in die Zukunft gerichtet. Ein Schnauzbart, wie ihn heute keiner mehr trägt,
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