Am Grund des Sees
Ausbau des Staudamms der Tessiner Elektrizitätsgesellschaft (SET) in Malvaglia, welche der Erhöhung der Speicherkapazität des Stausees dient, die Unterlagen über die zur Enteignung vorgesehenen Flächen in der Gemeindeverwaltung ausliegen; sollte sich eine der genannten Flächen am Nordufer des Stausees in Ihrem Eigentum befinden, bringen wir Ihnen hiermit zur Kenntnis, dass in nächster Zeit auf Kosten des Kantons eine Schätzung des Grundstückswerts vorgenommen wird.
Für die Gemeinde Malvaglia: Der Bürgermeister Giovanni Pellanda
Ein einziger langer Satz, eine Verurteilung. Sie fühlten sich sicher, das war klar. Zusammen mit dem Brief hatten sie ihm eine Landkarte geschickt: Auf dem Gelände, das geflutet werden sollte, stand kein einziges Wohnhaus, nur ein paar Stadel. Es würde also niemand protestieren. Schon damals, vor zwanzig Jahren, war jeder Protest sinnlos gewesen. Damals hatten auf dem Gelände, das dem Ausbau des Stausees zum Opfer fallen sollte, eine Handvoll Häuser gestanden. Eine Handvoll Häuser, die trotz der Beschwerden der Bewohner unter Wasser gesetzt worden waren. Erbarmungslos ausgelöscht.
Er legte die Hände flach auf den Schreibtisch, seufzte und schloss sekundenlang die Augen. Denk jetzt nicht mehr dran. Denk an die MFK am Wagen von Signor Costantini.
Er stand auf und trat an den Schreibtisch seines Chefs.
»Diesmal schafft er’s nicht mehr«, sagte er.
»Wie bitte?«, fragte Barenco, der noch immer ein wenig mitgenommen wirkte.
»Der Accord von Signor Costantini. Er möchte, dass wir es noch mal versuchen, aber schon beim letzten Mal hat er’s nur mit Müh und Not geschafft.«
»Hm … tatsächlich? Weiß ich gar nicht mehr.«
»Es war das reinste Wunder, dass sie ihn noch mal durchgelassen haben, und Sie hatten eine ganze Woche dran gearbeitet. Ich weiß ja nicht, wie viel Signor Costantini in das Auto noch reinstecken will, aber …«
»Er wird es auf jeden Fall versuchen. Er liebt diese alte Kiste. Und wenn nur noch ein einziger Reifen übrig ist, wird er sagen, ich soll ihn gut aufpumpen und es versuchen.«
Tommi missbilligte diese Sentimentalität gegenüber Autos. Das Gesetz sieht alle zwei Jahre eine Fahrzeugkontrolle vor, deren Zweck es ist, nicht mehr funktionstüchtige Gefährte zur Verschrottung zu schicken. Und das war richtig so.
Im Lauf des Nachmittags las er den Brief der Gemeinde noch ein paar Mal. Ohne einen Anflug von Zweifel und ohne Taktgefühl: Sie fassten einen Beschluss und teilten ihn dem Volk mit, Punkt. Schweizer Effizienz. Es brauchte mehr Strom? Wurden eben ein paar Dörfer geflutet. Malvaglia war ein kleines Gebirgskaff in einem der touristisch besterschlossenen Täler des Kantons Tessin. Tommi war Mitte dreißig und bestimmt nicht menschenscheu. Aber wenn er abends von der Arbeit nach Hause kam, liebte er die Stille, den Dialekt der Leute, die dunklen Straßen im Winter. Die Touristen liebte er nicht, und in der Stadt hielt er es nicht länger als einen Monat aus: Nach kurzer Zeit ergriff ihn eine Schwermut, die ihn niederdrückte, ihm nachts den Schlaf raubte und ihn nervös machte, ja aggressiv.
An diesem Abend schlenderte er den Staudamm entlang. Er hatte versucht, an etwas anderes zu denken. An Mathematik: Er betrieb sie im Selbststudium, das war sein Freizeitvergnügen, mit Begeisterung löste er Gleichungen und Rätsel, und momentan las er eine Abhandlung über Realanalyse. Aber jetzt gelang es ihm nicht, sich zu konzentrieren.
Diese Sache macht mich fertig, dachte er. Sein morgendlicher Entschluss war fast vergessen. Statt gleich Gewalt anzuwenden, sollte er sich vielleicht lieber an die Justiz wenden. Erst einmal abwarten, beschloss er. Vor dem Herbst konnte er sowieso keinen konkreten Schritt unternehmen.
Die nächsten Monate zogen sich hin wie Sekunden für einen, der die Luft anhält. Tommi hatte das Gefühl, er sei unter Wasser und halte mit geschlossenen Augen den Atem an. Er fuhr zur Arbeit, abends ging er manchmal in die Disko oder trank ein Bier in einem Pub. Er nahm eine Woche Urlaub und fuhr mit einem Freund fünf Tage nach Amsterdam.
Aber vergessen konnte er nicht.
Im Lauf der Wochen sammelte Tommi methodisch und geduldig die Fotos. Er sagte sich, das sei nichts als ein harmloses Hobby, genau wie die Mathematik. Manche Fotos fand er im Haus, in einem alten Album, auf andere stieß er in den Zeitungen oder im Internet. Am Ende warf er die hässlichsten weg, die restlichen unterzog er einer strengen Auswahl.
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