Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
dass möglicherweise weder die derzeitigen Gründe seiner Existenz noch die derzeitige Form des Staates legitim sind, gilt das als genozidale Position. So wird jede politische Diskussion über die legitimen Existenzgründe eines Staates in dieser Region sofort zum Schweigen gebracht, weil die Frage nach der Legitimität (ohne noch zu wissen, wie sie schließlich beantwortet wird) nicht als wesentliches Reflexionsmoment demokratischer Politik anerkannt wird, sondern vielmehr als verdeckter Wunsch gilt, eine bestimmte Bevölkerungsgruppe ausgelöscht zu sehen. Ganz offensichtlich ist unter solchen Bedingungen keine vernünftige Diskussion über Legitimität möglich. Da ferner Zionismus inzwischen gleichbedeutend ist mit jüdischen Souveränitätsansprüchen auf vormals palästinensisches Land, mag die Frage besser lauten: »Welche Politik könnte als legitim für ein Gebiet betrachtet werden, das derzeit von jüdischen und palästinensischen Israelis sowie von Palästinensern unter Besatzung bewohnt wird und nicht mehr von Hunderttausenden Palästinensern, die ihres Landes durch systematische und fortgesetzte Enteignung im Zuge eines anhaltenden Siedlerkolonialismus beraubt wurden?«Fragt man, welche Art Politik allen diesen Ansprüchen gerecht zu werden sucht, ist man offensichtlich kein Zionist mehr im heutigen Sinn dieses Begriffs. Vergessen sind in diesem Szenario nicht nur die verschiedenen Formen des Zionismus, die Gebietsansprüche abgelehnt haben, sondern auch die frühen Bemühungen um die föderative Verwaltung eines binationalen Staates. Die Befürwortung eines binationalen Staates gilt inzwischen als antizionistisch, was aber nicht immer so war. In Anbetracht der heutigen Formen des Zionismus bin ich jedenfalls der Auffassung, dass man nicht Zionist sein und zugleich für ein gerechtes Ende der kolonialen Unterdrückung kämpfen kann. Sogar die sozialistischen Experimente der Kibbuz-Bewegung waren integraler Teil des Siedlerkolonialismus, was bedeutet, dass Sozialismus in Israel als vereinbar mit kolonialer Unterdrückung und Expansion galt.
Natürlich sind viele Menschen mit jüdischem Hintergrund zu antizionistischen Positionen und zu dem Schluss gelangt, dass sie deshalb auch nicht länger Juden sein können. Mein Eindruck ist, dass der Staat Israel sie zu diesem Schluss beglückwünschen würde. Führt die Opposition gegen die derzeitige Politik Israels und allgemeiner gegen den Zionismus zu dem Schluss, dass man sich nicht länger als Jude begreifen will, bedeutet das effektiv eine Bestätigung der Auffassung, Jude zu sein heiße Zionist zu sein, eine historische Gleichsetzung, die man ablehnen muss, wenn man das Jüdischsein nach wie vor mit dem Kampf um soziale Gerechtigkeit verknüpft sehen will. Wieder andere Menschen mit jüdischem Hintergrund verstummen angesichts der derzeitigen Politik Israels. Oft verabscheuen sie die Besatzung und sind empört über israelische Militärschläge gegen Zivilisten in Gaza; manchmal wünschen sie sich auch Formen des binationalen Zusammenlebens, die gerechtere und lebensfähigere, weniger gewaltsame politische Strukturen für die Region ermöglichen könnten. Sie fürchten jedoch, mit dieser Kritik den Antisemitismus anzuheizen und sind der Meinung, öffentliche Kritik sei inakzeptabel, wenn sie für den Antisemitismus und für Verbrechen gegen Juden instrumentalisiert werden kann. Tatsächlich prägt dieser Doublebind inzwischen beinahe konstitutiv viele Juden in der Diaspora.
Was bedeutet diese Unfähigkeit, sich laut und deutlich für jene Prinzipien einzusetzen, die für die Befreiung des jüdischen Volkes selbst so wichtig waren? Im Folgenden werde ich mich mit dieser ausweglosen Stummheit beschäftigen, die im öffentlichen Diskurs sowohl Primo Levis wie Hannah Arendts zu beobachten ist, und ich werde die Frage stellen, welche Folgen sie für die heutige Kritik hat, welche selbst auferlegten Grenzen und welche Risiken sie mit sich bringt. Denn wenn wir hinnehmen, dass jede Israelkritik faktisch antisemitisch ist, zementieren wir nur jedes Mal, wenn wir uns Schweigen verordnen, die Gleichsetzung von Israelkritik und Antisemitismus. Wehren kann man sich dagegen nur, indem man deutlich und immer wieder mit starkem kollektivem Rückhalt zeigt, dass die Kritik an Israel gerecht ist und dass sämtliche Formen des Antisemitismus und sonstiger Rassismen absolut unannehmbar sind. Nur wenn diese Doppelposition im öffentlichen Diskurs deutlich wird, wird auch eine
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