Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
sie ethische Werte, die uns an Menschen ohne eindeutige nationale, kulturelle, religiöse, ethische Zuordenbarkeit zu den Normen binden, die unsere kulturellen Selbstdefinitionen prägen. Interessanterweise beharrte Lévinas auf unserer Bindung an jene, die uns unbekannt sind und die wir uns nicht ausgesucht haben und darauf, dass diese Verpflichtungen streng genommen jedem Vertrag vorausgehen. Natürlich war er derjenige, der in einem Interview sagte, der Palästinenser besitze kein Antlitz, 24 und er wollte eine ethische Verpflichtung nur gegenüber denjenigen sehen, die seinen eigenen Vorstellungen jüdisch-christlicher und klassisch griechischer Herkunft entsprechen. 25 In mancher Hinsicht gibt uns Lévinas eben den Grundsatz, den er hier verrät. Und das bedeutet, dass wir diesen Grundsatz auf das palästinensische Volk nicht nur anwenden können, sondern anwenden müssen, gerade weil er das nicht konnte. Schließlich verdanken wir Lévinas eine Konzeption ethischer Beziehungen, in denen wir ethisch empfänglich für diejenigen sind, die sich nicht in unserem unmittelbaren Zugehörigkeitskreis befinden, zu denen wir aber dennoch ungeachtet jeder Wahl und jedes Vertrages gehören.
Ich denke hier an eine verborgene Nähe zwischen Lévinas and Arendt. Arendt sagt zurecht, Eichmann sei der Meinung gewesen, selbst aussuchen zu können, mit wem zusammen er die Erde bewohnen will. Nach ihrer Sicht ist das keine Frage der Wahl, sondern eine Bedingung unseres politischenLebens. Wir sind vor jedem Vertrag und vor jedem Willensakt aneinander gebunden. Die liberale Vorstellung, nach der jeder von uns wissentlich und willentlich einem Vertrag beitritt, berücksichtigt nicht, dass wir bereits mit denen zusammen auf der Erde leben, die wir uns nie ausgesucht haben und deren Sprache nicht unsere ist. Ein Grund der radikalen Unzulässigkeit des Genozids liegt für Arendt gerade darin, dass wir keine Wahl haben, mit wem wir auf der Erde zusammenleben. Diese in sich vielfältige Bewohnerschaft geht uns immer schon voraus; sie ist immer plural, vielsprachig und räumlich verteilt. Kein Teil der Bewohnerschaft kann die Erde allein für sich beanspruchen. Das käme einer Politik des Genozids gleich. Ungewollte Nähe und nicht gewählte Kohabitation sind somit Vorbedingungen unserer politischen Existenz, und das ist die Grundlage von Arendts Kritik des Nationalstaats (und seiner Annahme einer homogenen Nation) und impliziert die Pflicht zum Leben auf der Erde und in einem politischen Gemeinwesen, das für die Gleichstellung notwendig unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen sorgt. Die ungewollte Nähe und das nicht gewählte Zusammenleben bilden zudem die Grundlage unserer Pflicht, keinen Teil der menschlichen Bewohnerschaft zu zerstören oder deren Leben unlebbar zu machen. Wenn Arendt Recht hat, war der Siedlerkolonialismus nie legitim, und ebenso wenig waren es die Vertreibungen angestammter Bevölkerungsgruppen auf Basis ihrer Nationalität oder Religion und die fortgesetzte Enteignung und Vertreibung des palästinensischen Volkes. Der Zionismus konnte sich nie auf Grundsätze der politischen Gleichheit berufen und hat deshalb nie eine substanziell demokratische Form angenommen. In seinem Bezugsrahmen lassen sich keine Lösungen finden, weil er einen Nationalstaat auf der Grundlage von Unterdrückung, Zerstörung oder Vertreibung der Einheimischen verlangt und erweitert.
Obgleich der Gedanke so weit verbreitet ist, Israel sei während des Nazi-Völkermordes und danach zur geschichtlichen und ethischen Notwendigkeit für die Juden geworden, waren Arendt und andere der Auffassung, die Lektion aus diesem Genozid müsse sein, dass Nationalstaaten sich niemals auf die Vertreibung ganzer Bevölkerungsgruppen gründen dürfen, die sich nicht in die Reinheitsvorstellung der Nation einfügen. Und für jene Flüchtlinge, die niemals mehr die Vertreibung von Bevölkerungsgruppen im Namen nationaler oder religiöser Reinheit erleben wollten, waren Zionismus und staatliche Gewalt nicht die legitime Antwort auf die drängenden Bedürfnisse jüdischer Flüchtlinge. Diejenigen, die aus der historischen Erfahrung von Internierung und Enteignung Grundsätze der Gerechtigkeit zu gewinnensuchten, verfolgten als politisches Ziel Gleichbehandlung ohne Rücksicht auf kulturellen Hintergrund und Herkunft, Sprache und Religion auch für jene, die wir uns nicht ausgesucht haben (oder die wir sehr wohl ausgesucht haben, aber ohne dies anzuerkennen) und mit
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