Am Tor Zur Hoelle
der Achtsamkeit. Während der Vorträge von Thich Nhat Hanh wie auch im Verlauf des Tages erklang von Zeit zu Zeit eine Glocke. Wann immer wir die Glocke vernahmen, waren wir eingeladen, zu unserem Atem zurückzukehren.
Die Glocke der Achtsamkeit ist nicht ausschlieÃlich Bestandteil der buddhistischen Tradition. Im Mittelalter gehörte sie beispielsweise auch zum Christentum: Wenn die Kirchenglocke erklang, war man eingeladen, in der Arbeit innezuhalten und einen Augenblick über die empfangenen Gaben und die Natur des Lebens nachzusinnen.
Um mich nicht in der Vergangenheit oder der Zukunft zu verlieren, trage ich manchmal eine Glocke bei mir, und ich lasse sie oft erklingen, wenn ich Vorträge halte, um alle zu bitten, innezuhalten und einfach gegenwärtig zu sein.
Doch wir müssen nicht unbedingt eine echte Glocke bei uns haben. Wenn wir wollen, können wir überall Glocken der Achtsamkeit finden. Wenn wir sorgsam lauschen, erklingt die Glocke der Achtsamkeit fortwährend um uns herum. Vielleicht läuten in Ihrer Stadt noch immer regelmäÃig die Kirchenglocken. Das Telefon kann eine Glocke der Achtsamkeit sein. Das Geräusch eines Autos, das die StraÃe entlangfährt, kann eine Glocke der Achtsamkeit sein und mich einladen, zu meinem Atem zurückzukehren. Wenn die Ampel auf rot steht, bin ich eingeladen, in der Hektik des Alltags innezuhalten und zu meinem Atem zurückzukehren. Wenn ich einen Hund bellen höre, bin ich eingeladen, innezuhalten und zu atmen. Das Ergreifen der Hand des Taschendiebes war eine Einladung, innezuhalten und zu atmen. All diese Dinge können Glocken der Achtsamkeit für uns sein. Sie bringen uns in den gegenwärtigen Augenblick zurück, der alles ist, was wir haben.
Sie können tief in Ihr Leben blicken und viele Glocken der Achtsamkeit finden, die Ihnen helfen, zu Ihrem Atem zurückzukehren. Heute morgen goss ich Milch über meine Frühstücksflocken und verschüttete ein paar Tropfen. Das war eine Glocke der Achtsamkeit. Vergangene Nacht konnte ich nicht schlafen, und während ich drauÃen herumspazierte, vernahm ich Schüsse. Für mich war das eine Glocke der Achtsamkeit. Während ich heute vor der Haustür stand, klingelte irgendwo ein Handy. Das war eine Glocke der Achtsamkeit für mich. Als ich später zu Fuà unterwegs war, kamen viele Autos an mir vorbei, die Staubwolken aufwirbelten, und natürlich dachte ich, sie fahren viel zu schnell. Dieser Gedanke war eine Glocke der Achtsamkeit. Statt mich in meine Ãngste, Gedanken, Wahrnehmungen und Wertungen verwickeln zu lassen und von diesem Ort des Leidens aus zu handeln, kehrte ich zu meinem Atem zurück, wurde ich zum Beobachter, der weder an etwas haftete noch etwas zurückwies, und so konnte ich Zeugnis ablegen, wie ich an dem Kreislauf des Leidens teilhatte und ihn fortführte. Genau hier, an genau diesem Punkt â die Hand des Taschendiebs packen, am Verkehr teilnehmen, Milch verschütten â entsteht die Freiheit zu entscheiden, ob ich anders handeln will oder einfach so reagiere, wie ich es in der Vergangenheit getan habe.
Die Ursachen und Bedingungen unseres Lebens
halten uns im Leiden gefangen
Ich habe den GroÃteil meines Lebens in einem Zustand der Nicht-Achtsamkeit verbracht, dem Zustand der Unachtsamkeit. Welch eine Freude ist es zu erwachen! Denn in Achtsamkeit leben heiÃt erwachen. Wenn ich morgens aufwache, werde ich manchmal vom Leiden verzehrt und bin voller Angst, voller Zweifel, voller Scham. Doch dann empfinde ich diese Scham als Glocke der Achtsamkeit. Ich atme ein, ich atme aus, und ich bin dankbar, dass es mir möglich ist, mit diesen Empfindungen in Berührung zu kommen, eine andere Art von Beziehung zu ihnen einzugehen, andere Entscheidungen in meinem Leben zu treffen.
Wenn ich in Unachtsamkeit lebe, habe ich keine Wahl. Meine anerzogene Natur entscheidet an meiner statt. Das können wir der Geschichte des Buddha über die Säulenhölle entnehmen. Diejenigen, die in diese Hölle stürzen, sehen die Säule als geliebten Partner, geliebte Partnerin oder als Objekt der Begierde. Wenn sie loseilen, um die Säule zu umarmen, wird sie feuerrot und versengt sie zu Tode, aus dem sie von der »Sanften Brise« wiedererweckt werden, einzig um den Prozess erneut zu durchlaufen. Der Begriff »Hölle« wird in einigen buddhistischen Traditionen als »fundamentales Gefängnis«
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