American Gods
1
Die Grenzen unseres Landes, Sir? Nun wohin Sir, im Norden grenzen wir an das Nordlicht, im Osten grenzen wir an die aufgehende Sonne, im Süden werden wir vom Vorrücken der Tagundnachtgleiche begrenzt und im Westen vom Tag des Jüngsten Gerichts.
The American Joe Miller’s Jest Book
Shadow hatte drei Jahre Gefängnis abgesessen. Sein Körperbau war so eindrucksvoll, und er hatte eine solche Komm-mir-nicht-dumm-Ausstrahlung, dass sein größtes Problem darin bestand, die Zeit allein totzuschlagen. Also hielt er sich fit, brachte sich Münzentricks bei und dachte viel darüber nach, wie sehr er doch seine Frau liebte.
Das Beste am Gefängnisdasein – Shadows Ansicht nach das vielleicht einzig Gute – war ein gewisses Gefühl der Erleichterung. Das Gefühl, dass er so tief gefallen war, wie es nur ging, und dass es jetzt nur noch aufwärtsgehen konnte. Er musste sich keine Sorgen machen, dass man ihn am Arsch kriegen würde, weil man ihn schon am Arsch hatte. Er hatte keine Angst vor dem, was die Zukunft bringen mochte, weil die Vergangenheit es ihm schon gebracht hatte.
Es spielte keine Rolle, fand Shadow, ob man das, wofür man verurteilt worden war, begangen hatte oder nicht. Jeder, den er im Gefängnis kennen gelernt hatte, fühlte sich irgendwie ungerecht behandelt: Da gab es immer irgendwas, was die Strafverfolger in den falschen Hals gekriegt hatten, Dinge, die sie einem zur Last legten, obwohl man sie gar nicht getan hatte – oder jedenfalls nicht so, wie sie behaupteten. Es kam ihnen nur darauf an, dass sie einen am Arsch hatten.
Er hatte es schon in den ersten Tagen bemerkt, als alles, vom Knastslang bis zum schlechten Essen, noch neu für ihn war. Trotz des ganzen Elends und der unter die Haut gehenden Grauenhaftigkeit des Eingekerkertseins konnte er erleichtert aufatmen.
Shadow bemühte sich, nicht allzu viel zu reden. Erst irgendwann Mitte des zweiten Jahres erwähnte er seine Ansicht gegenüber Low Key Lyesmith, seinem Zellengenossen.
Low Key, ein Betrüger aus Minnesota, legte sein verschrammtes Lächeln auf. »Yeah«, sagte er. »Das ist wahr. Es ist sogar noch besser, wenn du zum Tode verurteilt worden bist. Dann erinnerst du dich an die Witze über die Typen, die barfuß zum Galgen gehen, weil ihre Freunde ihnen immer gesagt haben, dass sie mal in ihren Stiefeln sterben würden.«
»Soll das ein Witz sein?«, fragte Shadow.
»Aber hallo. Galgenhumor. Der beste, den ’s gibt.«
»Wann ist in diesem Staat das letzte Mal jemand gehenkt worden?«, fragte Shadow.
»Woher soll ich denn das wissen?« Lyesmith trug sein orangeblondes Haar immer ziemlich kurz geschnitten. Man konnte die Konturen des Schädels erkennen. »Kann dir aber eins sagen: Dieses Land geht in die Grütze, seit sie aufgehört haben, die Leute aufzuknüpfen. Keine Trommelwirbel mehr, und auch keine Rettung in letzter Minute.«
Shadow zuckte die Achseln. Er konnte nichts Romantisches an der Todesstrafe finden.
Sofern man nicht zum Tode verurteilt war, befand er, war das Gefängnis, wenn man es günstig traf, nur ein vorübergehender Lebensaufschub, und zwar aus zwei Gründen. Erstens schleicht sich das Leben allmählich zurück, selbst ins Gefängnis. Es gibt immer noch ein tieferes Tief, in das man sinken kann. Das Leben geht weiter. Und zweitens müssen sie einen, wenn man sich nicht unterkriegen lässt, irgendwann auch wieder rauslassen.
Am Anfang war es schwer für Shadow, dieses Irgendwann ins Auge zu fassen, weil es einfach zu weit in der Ferne lag. Langsam aber wurde daraus ein schwacher Hoffnungsstrahl, und er redete sich zusehends ein, dass »auch das vorbeigehen wird«, dass die Gefängnisscheiße hinter ihm zusammenschlagen würde, wie Gefängnisscheiße es nun mal zu tun pflegte. Eines Tages würde die magische Tür sich öffnen und er würde hindurchgehen. Also hakte er die Tage auf seinem »Singvögel in Nordamerika«-Kalender ab, dem einzigen Kalender, der im Gefängnisladen erhältlich war. Die Sonne ging unter, ohne dass er es sehen konnte, und dann ging die Sonne wieder auf, ohne dass er es sehen konnte. Er übte seine Münzentricks nach einem Buch, das er im Ödland der Gefängnisbibliothek gefunden hatte, er hielt sich weiterhin fit, und er erstellte im Kopf eine Liste der Dinge, die er tun würde, sobald er aus dem Gefängnis herauskam.
Shadows Liste wurde von Mal zu Mal kürzer. Nach zwei Jahren hatte er sie auf drei Punkte zusammengestrichen.
Erstens würde er ein Bad nehmen. Sich
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