Amnion 5: Heute sterben alle Götter
diesem Widerspruch auseinanderzusetzen.
Sie streckte die Hand aus, um den Apparat abzuschalten. Die Konzilssitzung war ihr qualvoller geworden, als sie es verkraften konnte. Sie war noch nicht dazu bereit, sich fallen und ihren angestauten Gefühlen freien Lauf zu lassen. Aber ihre Finger verharrten über der Taste, sobald sie den Konzilsvorsitzenden als nächsten Sprecher Punjat Silat ankündigen hörte. Silat war Repräsentant der Allianz Asiatischer Inseln und Halbinseln; das unter seiner Leitung zusammengetretene Komitee war damit betraut worden, ein Urteil über Warden Dios zu fällen.
Eigentlich mochte sie davon gar nichts wissen doch gleichzeitig war es ihr unmöglich, sich dagegen zu verschließen. Als Mensch hatte sie Warden Dios kaum gekannt. Aber die Ikone Warden Dios, das Symbol und der Inbegriff der VMKP-Ideale und des Dienstes an ihnen, war eine der Hauptgestalten ihres Lebens, vielleicht die Hauptperson ihres Daseins. Die Existenz ihrer gesamten Familie hatte sich um seine Gedanken, seine Auffassungen gedreht; um sein Überzeugungsvermögen.
Darum setzte sie sich, statt den TV-Monitor auszuschalten, wieder hin, um zuzuhören, als glaubte sie, jedes Urteil über Warden Dios wäre auch ein Urteil über sie.
Der gelehrte Konzilsdeputierte sprach in würdiggemessenem Ton einer Lobrede. Dennoch fiel sein Bericht bewundernswert knapp und bündig aus. Zwei Tage lang, so schickte er voraus, hatten er und das Komitee beraten und sämtliche erhältlichen Informationen über das Verhalten – und die Absichten – des vormaligen Polizeipräsidenten diskutiert. Ausführlich hatte das Komitee Min Donner, Hashi Lebwohl und Koina Hannish befragt und sie gebeten, die dem Regierungskonzil seitens Koina Hannishs und Morn Hylands schon gemachten Aussagen durch ihre persönliche Kenntnis der Situation zu ergänzen. Außerdem hatten die Komiteemitglieder sich anhand der privaten Aufzeichnungen Warden Dios’, soweit zugänglich, zusätzlich informiert, eine Maßnahme, die durch Hashi Lebwohl ermöglicht worden war, der dem Komitee einige Codes des toten Polizeipräsidenten zu nennen gewußt hatte.
»Es steht völlig außer Frage«, konstatierte Punjat Silat, »daß Dios sowohl gegen seine Amtspflicht wie auch die Ideale der eigenen Profession in fundamentaler, umfassender Weise verstoßen hat. Er handelte, wie aus seinen Privataufzeichnungen eindeutig hervorgeht, in vollkommener Klarheit über die Unrechtmäßigkeit seines Tuns und in vollem Bewußtsein der Tragweite seiner Taten. Zur gleichen Zeit ist allerdings aus seinen Aufzeichnungen auch ersichtlich, daß er seine Gesetzesverstöße zu dem alleinigen, unmißverständlichen und unerschütterlich angestrebten Zweck verübte, Holt Fasners überstarken Einfluß auf die Zukunft der Menschheit zu brechen. Die Angaben seiner engsten Mitarbeiter, denen er am meisten vertraute, bestätigen diese Feststellung, wenn auch oft nur durch das Mittel nachträglicher Rückschlüsse. Gleichfalls bedeutet die bemerkenswerte Aussage Morn Hylands eine erhebliche Untermauerung dieses Untersuchungsresultats. Wird Warden Dios’ Fehlverhalten dadurch entschuldigt? Gewiß nicht. Seine Handlungen haben den Schutz der Menschen gegen die Amnion in ihrer gesamten Struktur wesentlich beeinträchtigt. Sie haben sogar zu einer kriegerischen Konfrontation geführt. Millionen über Millionen von Menschenleben hätten verloren gehen, unermeßlicher Schaden angerichtet werden können. In dieser Beziehung ist sein Treiben unverantwortlich bis zum Extrem gewesen.«
Einen Moment lang konnte Morn wegen ihrer Tränen nichts sehen. Mehr denn je vermißte sie jetzt das Zonenimplantat-Kontrollgerät; sehnte sie sich nach der Möglichkeit zurück, ihr Innenleben zu regulieren und zu steuern. Aber Vector Shaheed hatte die Unseligkeit begangen – oder den Segen –, das Kontrollgerät kaputtzuschlagen. Sie hatte keinen künstlichen Schutz gegen sich selbst, keinen Rückhalt artifizieller Kraft mehr.
Vielleicht brauchte sie dergleichen gar nicht. Irgendwo in ihrem Innern mußte eine vernünftigere Lösung als Selbstzerstörung zu finden sein.
»Indessen sind meine Komiteekollegen und ich jedoch zu der Einsicht gelangt«, sagte Silat, »daß auch wir eine bestimmte Frage, die Warden Dios in seinen Privataufzeichnungen immer wieder aufgeworfen hat, nicht unbeachtet lassen dürfen. Was hätte er sonst tun sollen? Seine dienstliche Verpflichtung lag freilich klar auf der Hand. Von der Stunde an, als er Holt
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