Igor der Schreckliche
KAPITEL 1
Der Friedhof
auf dem Hügel
Lara wohnt auf einem Bauernhof. Rings um ihn herum liegen Felder und Wiesen. Dahinter verläuft ein Wald, der weder über eine kolossale Fläche noch über abenteuerliche Spielmöglichkeiten verfügt: Verstecken spielen, auf Bäume kraxeln und Höhlen bauen. Nicht unbedingt aufregend!
In zehn Minuten kann Lara eine Anhöhe erreichen. Dort thront eine steinalte Kirchenruine, umgeben von jahrhundertealten trost- und schmucklosen Gräbern. Die Inschriften sind schwer zu entziffern. Niemals hat Lara jemanden kommen sehen, der der Toten gedenkt. Das macht sie unendlich traurig. Ihren vor knapp drei Jahren verstorbenen Großvater besucht sie jede Woche. Sie schmückt sein Grab mit frischen Blumen, erzählt ihm Neuigkeiten und was sie nervt. Davon gibt es im Moment vieles: Mama, Ballett und die Sechs in der Matheaufgabe.
Mit frisch gepflückten Wiesenblumen spaziert Lara heute den Hügel hinauf zum alten Friedhof. Sie liebt diesen Ort. Wegen seiner mystischen Ruine. Wegen seiner unheimlichen Aura, wegen seiner Magie.
Und weil Mama ihn nicht mag. Dort kann Lara ungestört Tagebuch schreiben und es verstecken. Mama mag keine Tagebücher. Sie seien eine Familie und da gäbe es keine Geheimnisse!
Abends, wenn sich Sonne und Mond die Hände reichen, hat der Friedhof etwas Gespenstisches. Wie ein Schleier umhüllt der Nebel die Ruhestätten. Der Wind säuselt sein widerwärtigstes Lied.
Behutsam legt Lara die Blumen auf einem Grab ab. Mit einem kräftigen Ruck schiebt sie einen Stein beiseite. Warum Lara dieses Grab auserkoren hatte, um ihr Tagebuch zu verstecken, weiß sie nicht. Vielleicht, weil es unfassbar marode aussieht. Vermutlich hat sich keiner je darum gekümmert. Die Buchstaben auf dem Grabstein lassen sich nur andeutungsweise lesen. Irgendwas mit I r m . Lara hat sich tausendfach gefragt, ob es eine Irmgard war. Früher waren alle Namen eigenartig und altbacken: Arnhild, Mechthild, Brunhild, Luitgard.
Für Lara ist es eine Irmgard.
Lara schnappt sich das Tagebuch und schmiegt sich an den einzigen Baum. Er protzt mit seinem kolossalen Körper, der die Pracht seiner Blätter im Wind wehen lässt. Lara liebt seine Ruhe und Kraft. Eine Träne plumpst auf den letzten Eintrag, schlängelt sich zart entlang und verschmiert das Geschriebene. Lara streicht sie weg.
Liebe Irmi
.
Lara hat ihrem Tagebuch den vermutlichen Namen der Toten gegeben: Irmgard. Lara nennt sie Irmi. Das klingt goldig und melodisch. Irmi vertraut sie alles an wie einer großen Schwester. Lara hätte gerne eine. Stattdessen zählt sie vier Brüder. Wie gerne hätte sie eine ältere Schwester dazu! Eine, die manche Verbote bereits beseitigt hätte und gerne in den Ballettunterricht ginge. Auf ihre Brüder möchte sie nicht verzichten. Mit wem sollte sie sonst täglich bolzen?
Mama nervt extrem! Dieses Scheißballett! Ich kann es nicht mehr hören!
Lara kritzelt. Normalerweise schreibt sie wunderschön geschwungen. Nicht aber, wenn sie traurig ist.
Warum versteht sie nicht, dass ich dieses Tutugehüpfe nicht leiden kann? Ich will Fußball spielen! Die Jungs dürfen das! Überhaupt dürfen die alles – und ich nichts! Das ist fies! Richtig fies!
Heute kam die Krönung! Sie vergleicht mich ständig mit Vicky! Und was hat Victoria in der Klassenarbeit? Victoria geht gerne ins Ballett und ist so talentiert! Ich bin nicht Vicky. Und ich will nie, wirklich nie so eine eingebildete Ziege werden!!!
Darum schrieb ich mich heute ins Fußballtraining für Mädchen ein. Das war leicht. Allerdings brauche ich die Unterschrift von Mama oder Papa. Papa würde sofort unterschreiben. Weil Mama aber gegen Mädchenfußball ist und eine Primaballerina in mir sieht, steht meine Chance schlecht
.
Ich hoffe, die Trainerin fragt nicht gleich beim nächsten Training, wo die unterschriebene Anmeldung ist. Mir fällt da bestimmt was ein. Oder Bille
.
Ach ja! Bille hat ewig auf Mama eingeredet wegen des Fußballtrainings. Ohne Erfolg. Dabei kann Bille so überzeugend sein! Bille will nicht mehr zum Fußballtraining, weil ich nicht darf. Das will ich wiederum nicht. Und so sind wir auf die Idee gekommen, uns ohne Erlaubnis einzuschreiben
.
Ich könnte die Unterschrift von Mama fälschen? Das wäre ein Weg! Ach, Irmi, ich bin froh, dass du da bist! Ich würde gerne endlos plaudern, aber bald gibt’s Abendessen. Und du weißt, dass Mama Unpünktlichkeit nicht ausstehen kann. Pünktlichkeit ist eine Zier! Bis die Tage!
Deine
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