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Amras

Titel: Amras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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jahrtausendelangen ungesunden Kalorik, der unzuverlässigsten Quecksilbersäule Europas.
    Kinder der Felsen und Schluchten, der Pornographie der Natur, haben wir immer nur in der ahnungsvollen, wahrsagetollen Chemie der Tiroler Alpen gelebt, ein jeder von uns als ein Unglücksrutengänger, ein Feuchtigkeitsmesser, ein Heilanzeiger zwischen Hafelekar und Patscherkofel …
    … selbst als Kind schon existierten wir in einer ständigen Furcht vor Schlagflüssen, in grauenvoller Erdbebenangst, Furcht vor Häusereinstürzen, Tollwut, in ständiger Angst, erschlagen, überfahren zu werden … Wir haben uns nur unter dem Schutze unserer in der Kindheit sehr großen Vergeßlichkeit der Natur unter Bäume, unter Erker und Dachvorsprünge getraut … Nie waren wir mit den anderen, wie sie , auf die Berge, auf die Felswände, Gletscher und Gipfel hinauf … aus Angst, hinunterzustürzen, erfrieren zu müssen.
    Jeder Fortgang aus uns, aus dem Elternhaus, war uns nur unter Schmerzen möglich gewesen … aus Angst vor Verletzungen … Die Wahrheit ist, daß wir uns zeit unseres Lebens nur immer gefürchtet haben, eine ungeheure Angst hatten unsere Eltern in uns entwickelt … diese Angst hatte sich im Laufe der Zeit mit der Todeskrankheit der Mutter, mit Walters Todeskrankheit in uns immer tiefer und tiefer erstreckt, sich in uns dann auf immer andere Bezirke von unseren, vor allem, was Walter, was mich, meine von ihm ja hervorgerufene Existenz betrifft, körperlichen, auf unsere seelischen, auf unsere voneinander so verschiedenen Geistesnaturen … bald hatten wir, mit der Zeit, Angst vor dem Aufschlagen unserer Bücher, unserer Schriften und Briefe, vor dem Hineingehen in die finsteren, ungelüfteten Kirchen der Philosophien, vor den ungeheueren Dynalogien von Kathedralen … Angst vor den Falltüren in philosophischen Gängen, wissenschaftlichen Mühlen und Sägewerken … Schon als Kinder hatte uns das Öffnen von Türen und Fenstern Gleichgewichtsstörungen, Kopfschmerz und Ohnmacht verursacht … später war uns das oft beim Umblättern einer Bücherseite geschehen … mit wieviel größererQual in Walter … Wir hatten, von unseren ersten Gedanken an, immer in einer von unseren Eltern in uns eingeführten geistigen Hochgebirgsinzucht gelebt; auf den von ihnen überall aufgestellten Altären opferten wir unsere schönsten Anlagen … aber die Eltern waren ja auch Produkte der fürchterlichen tirolischen Oxydationen gewesen, furchtsame Eingeweide des in Millionen von Jahren wie für sie (wie für uns), die Unbewußten, Todessüchtigen , entstandenen Oberinntals … Auch sie hatten ihr Leben mit dem Lesen unseres Strafgesetzbuches Tirol verbringen müssen … es war ihnen dadurch die Möglichkeit genommen, diese sie fortwährend einfrierende und versengende, ihnen angeborene tirolische Erdoberfläche mit der Tugend des zur Todeskrankheit nicht geborenen Wissenschafters eingehend zu studieren … die Schönheit Tirols war auch für sie nicht möglich gewesen … wir hatten nur, um in ihr zu ersticken, in ihr gelebt, uns in ihr unseres Lebens entledigt … hätten wir Nachkommen, auch sie würden, weil aus uns, in ihr ersticken … Wir waren, schon früh von allem zurückgestoßen, Zuflucht suchend, zeitlebens immer nur eingeschlossen in unser aller Hylozoismus; das verdunkelte und verfinsterte naturgemäß folgerichtig, am verheerendsten in unseren Studienjahren, unser Verhältnis zur äußeren Umwelt; hat es mir bis heute verfinstert … Wir, Walter und ich, waren immer getäuscht worden; in trostloser Luftzusammensetzung, in einem patriarchalischen, tödlichen, von den perfiden Höhen und Tiefen seiner Architekturnatur hervorgerufenen menschenwidrigen Galvanismus … Wie viele unserer Talente hätten wir zu erstaunlicher Größe in uns entwickeln können, wären wir nicht in Tirol geboren worden und aufgewachsen.
    Lange Zeit in meinem Zimmer, in welchem ich mich nicht mehr fühlen kann, im Hintergrund der zuerst betrunkenen, dann schlafenden, im Schlaf sprechenden, Frauennamen rufenden, Werkzeugnamen, Baumnamen, Namen von Kindern,Bezeichnungen von Kleidungsstücken und Leder, in Anzüglichkeiten träumenden Holzfäller über das Labyrinthische meiner Wissenschaft, über ihr Wissenschaftliches nachgedacht … Wie sich in ihr und aus ihr und in mir, die vielen, die Tausende, aber Tausende von Bezeichnungen, Betäubungen immerfort für sich verändern, wie aus den Einen (oft recht verwahrlosten) die Anderen geworden sind, wieder

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