Amras
Nach dem Selbstmord unserer Eltern waren wir zweieinhalb Monate in dem Turm eingesperrt, in dem Wahrzeichen unseres Vorortes Amras, das nur durch den großen, in südlicher Richtung hinauf an das Urgestein führenden Apfelgarten, vor Jahren noch ein Besitztum unseres Vaters, zugänglich ist.
Der unserem Onkel gehörende Turm ist uns in diesen zweieinhalb Monaten eine vor dem Zugriff der Menschen schützende, vor den Blicken der immer nur aus dem Bösen handelnden und begreifenden Welt bewahrende und verbergende Zuflucht gewesen.
Nur dem Einfluß unseres Onkels, des Bruders unserer Mutter, verdankten wir, daß wir, gegen die grobe Tiroler Gesundheitsvorschrift, die im Selbstmord Entdeckten, zu qualvollem Weiterleben Verurteilten und dadurch Entstellten betreffend, nicht in die Irrenanstalt hineindirigiert und nicht wie so viele das Schicksal der in ihr erst Zerrütteten und Zerschlagenen aus dem Oberinntal und vom Karwendel und aus den Brennerdörfern auf die mir bekannte entsetzliche Weise zu teilen hatten.
Unsere Familienverschwörung war von einem Imster Geschäftsmann und Gläubiger unseres Vaters zwei Stunden zu früh entdeckt und publik gemacht worden: wir waren, zum Unterschied von den Eltern, noch immer nicht tot gewesen …
… sofort und, wie unser Onkel uns nicht verschwiegen hat, völlig nackt, in zwei Roßdecken und in ein Hundsfell gewickelt, waren wir noch in der gleichen Nacht und in noch bewußtlosem Zustand , um den Gesundheitsbehörden zuvorzukommen, in einem von unserem Onkel geschickten schnellen Wagen aus dem Innsbrucker Vaterhause nach Amras und dadurch in Sicherheit, in den Hintergrund von Beschuldigung und Geschwätz und Verleumdung und Infamie gebracht worden … Wir hatten, wie unsere Eltern,unseren Selbstmord gewünscht und ihn untereinander abgesprochen … und am Dritten von einer Verschiebung, wie wir sie im Laufe des Winters öfter im letzten Augenblick und jedesmal wieder durch Einwände unserer Mutter zu akzeptieren gezwungen waren, überhaupt nichts mehr wissen wollen …
Hinter unseren Eltern zurückgeblieben, von ihnen allein gelassen, lagen wir, Walter und ich, in den uns von allen Seiten nur in Bruchstücken schamvoll beschriebenen, dadurch so dunkel gebliebenen Tagen kurz auf die Selbstmordnacht, schon von den ersten Augenblicken im Turm an, die ganze Zeit auf den wohl für uns in aller Eile frisch überzogenen Strohsäcken auf dem mittleren Boden des Turms, zuerst besinnungslos, späterhin schweigend und horchend und danach, oft den Atem anhaltend, vom Ende der ersten Woche an, immer nur auf und ab gehend, mit nichts als mit unserer völlig verfinsterten, hintergangenen noch nicht zwanzigjährigen jungen Natur beschäftigt … Der Turm war uns aus der Kindheit wie kein andres Tiroler Gebäude vertraut, kein Kerker … auf der oberen wie auf der unteren Treppe gehorchten wir ständig, tappend und frierend, in unseren aus den Himmelsrichtungen bodenlos impulsiv zerstörten Gedanken, unserem heillosen, wenn auch höhern Geschwisterstumpfsinn … Unsere Wachsamkeit drückte auf unser Gemüt und beschränkte unseren Verstand … Wir schauten nicht aus den Fenstern hinaus, wir hörten aber genug Geräusche, um Angst zu haben … Unsere Köpfe waren, streckten wir sie ins Freie, der Bösartigkeit der Föhnstürme ausgesetzt; in den Luftmassen konnten wir kaum mehr atmen … Es war Anfang März … Wir hörten viele Vögel und wußten nicht, was für Vögel … Das Sillwasser stürzte vor uns in die Tiefe und trennte uns lärmend von Innsbruck, der Vaterstadt, und dadurch von der uns so unerträglich gewordenen Welt … In den von unserem Onkel, noch während wir ohnmächtig, wahrscheinlich vollkommen weg und besinnungslos– tödlich gewesen waren, mit großem Bedacht ausgewählten, aus der Herrengasse nach Amras heraufgeschafften, uns beiden gehörenden Büchern und Schriften, meinen, Walter unverständlichen naturwissenschaftlichen, Walters mir unverständlichen musikalischen, blätternd, über die eigene und über die fremde, die allgemeine, uns wahnsinnig machende große Geschichte, sinnierend, über die Millionen von Schneestürmen von Entwicklungen – schon immer liebten wir, was uns schwer-, verabscheuten wir, was uns leichtfiel – immer tiefer in unsere tobenden Köpfe zurückgezogen, stopften wir unseren Turm mit Trauer aus.
Einen Brief des Meraner Psychiaters Hollhof, eines Freundes unseres Vaters, den wir schon drei Tage, nachdem wir im Turm gewesen waren, erhalten
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