Amsterdam-Cops 04 - Tod eines Strassenhaendlers
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«Ja, Mevrouw», sagte der Konstabel ruhig. «Würden Sie mir bitte sagen, wer Sie sind? Und wo Sie sich befinden?»
«Er ist tot», sagte die sanfte, belegte Stimme, «tot. Er liegt auf dem Fußboden. Sein Kopf ist ganz blutig. Als ich ins Zimmer kam, atmete er noch, aber jetzt ist er tot.»
Sie hatte es bereits dreimal gesagt.
«Ja, Mevrouw», sagte der Konstabel noch einmal. In seiner Stimme schwang Geduld und Verständnis mit. Vielleicht Liebe. Aber der Konstabel spielte ihr etwas vor. Er hatte eine gute Ausbildung hinter sich. Ihm ging es nur darum zu erfahren, wer mit ihm sprach und woher der Anruf kam. Der Konstabel arbeitete schon seit Jahren in der Funkzentrale des Amsterdamer Polizeipräsidiums. Er nahm viele Anrufe entgegen. Jeder, der sechsmal die Zwei wählt, erreicht die Funkzentrale. Jeder – das sind viele Menschen. Einige von ihnen sind seriöse Bürger, einige sind verrückt. Und einige sind vorübergehend übergeschnappt; sie haben etwas gesehen, eine Sensation erlebt. Das Erlebnis hat sie vielleicht mit einem Schlag von ihrer üblichen Routine befreit, oft bis zu dem Punkt, da sie unter einem Schock leiden. Oder sie sind betrunken. Oder sie wollen nur mit jemand sprechen, um zu wissen, daß sie nicht allein sind und es unter den eine Million Einwohnern der niederländischen Hauptstadt einen gibt, der für sie da ist und ihnen zuhört. Jemand, der lebt, nicht nur eine Stimme vom Tonband, die ihnen sagt, daß Gott gut und alles in Ordnung ist.
«Sie sagten, er ist tot», sagte der Konstabel ruhig. «Das tut mir sehr leid, aber ich kann nur zu Ihnen kommen, wenn ich weiß, wo Sie sind. Ich kann Ihnen helfen, Mevrouw, aber wohin soll ich kommen? Von wo aus rufen Sie an, Mevrouw?»
Der Konstabel hatte nicht vor, die Dame aufzusuchen. Es war fünf Uhr nachmittags, und er würde in fünfzehn Minuten Feierabend machen. Er wollte nach Hause, etwas essen und ins Bett gehen. Er hatte an diesem Tag lang und hart gearbeitet, viel mehr als sonst. Die Funkzentrale war unterbesetzt, es fehlten drei Eerste Konstabels und ein Brigadier. Der Konstabel dachte an seine Kollegen und lächelte grimmig. Er konnte sie sich gut genug vorstellen, denn er hatte beobachtet, wie sie morgens den großen Hof des Präsidiums verlassen hatten. Weiß behelmt, einen Schutzschild und einen langen, ledernen Schlagstock in der Hand, nur ein Teil von einem der vielen Mannschaftszüge, die in blauen, gepanzerten Transportwagen davongedonnert waren. In Amsterdam war wieder einmal die Zeit der Unruhen angebrochen. Seit Jahren hatte es keine gegeben, und man hatte den schreienden Pöbel, die fliegenden Ziegelsteine, die brüllenden Fanatiker, die die schwankenden Mengen führten, die explodierenden Gasgranaten, die blutigen Gesichter, die Sirenen von Ambulanzen und Polizeifahrzeugen schon fast vergessen. Jetzt hatte alles wieder von vorn angefangen. Der Konstabel hatte sich für den Dienst zur Bekämpfung der Unruhen freiwillig gemeldet, aber jemand mußte das Telefon bedienen. Deshalb war er noch hier und hörte der Dame zu. Die Dame erwartete, daß er kam und sie aufsuchte. Das würde er nicht tun. Aber sobald er wußte, wo sie war, würde ein Polizeiwagen hinrasen. Und die Dame würde mit der Polizei sprechen. Polizei ist Polizei.
Der Konstabel sah auf sein Formular. Name: punktierte Linie. Adresse: punktierte Linie. Anlaß: toter Mann. Zeitpunkt: 17.00 Uhr. Sie war vermutlich hinaufgegangen, um den Mann zum Tee oder zu einem frühen Abendessen zu rufen. Sie hatte ihn vom Korridor oder vom Eßzimmer aus gerufen. Er hatte nicht geantwortet. Also war sie in sein Zimmer gegangen.
«Ihren Namen bitte, Mevrouw», sagte der Konstabel noch einmal. Seine Stimme hatte sich nicht geändert. Er drängte sie nicht.
«Esther Rogge», sagte die Frau.
«Ihre Adresse, Mevrouw?»
«Recht Boomssloot, vier.»
«Wer ist der Tote, Mevrouw?»
«Mein Bruder Abe.»
«Sind Sie sicher, daß er tot ist, Mevrouw?»
«Ja. Er ist tot. Er liegt auf dem Fußboden. Sein Kopf ist ganz blutig.» Das hatte sie alles schon erzählt.
«Ich verstehe», sagte der Konstabel munter. «Wir kommen sofort, Mevrouw. Machen Sie sich jetzt keine Sorgen mehr, Mevrouw. Wir werden gleich dort sein.»
Der Konstabel steckte das kleine Formular durch einen Schlitz in der Glasscheibe, die ihn vom Funker trennte. Er winkte dem Funker zu. Dieser nickte und schob zwei andere Formulare zur Seite.
«Drei eins», sagte der Funker.
«Drei eins», sagte Kriminalbrigadier de
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