An diesem einen Punkt der Welt - Roman
dem entstand und unterging.
Hier, an diesem einen Punkt der Welt, im Lamandergrund, geschah es. In der Beuge des Baches, im Schatten des steilen Hangs, unter den Wäldern und Wiesen des Grillparz. Erreichbar den Glocken des Klosters. Bereit für den Rausch des Lebens. Genug für die Stille.
Und Tom füllte das Haus mit dem, was ihm einzig unveränderlich war und was blieb als Spur seines Seins: Literatur. Die, die er selbst schrieb, verbrannte er. Gedichte, Essays, Romananfänge. Er hielt sie für schlecht. Langsam wucherten die entrümpelten Räume wieder zu. Mit Büchern. Hunderten, im Lauf der Jahre mit Tausenden von Büchern, in vielen Sprachen. Tom war sprachbegabt, konnte neben Altgriechisch und Latein Italienisch, Französisch, Spanisch, Englisch und etwas Russisch, er wollte Arsenij Tarkowskij im Original lesen. Bücher in allen Stilrichtungen, Berühmtes, Verschollenes, Unbekanntes, viele Erstausgaben, viele Kostbarkeiten. Jeden Samstag fuhr er auf einen Flohmarkt oder zu Antiquariaten. Jeder Nebenjob war ihm recht, um ein paar Schillinge, später Euro für neue Bücher zu verdienen.
Tom las und es schneite.
Er las und es schrien die Sperlinge.
Er las und es rief der Kauz.
Er las und die Leidenschaften wurden Träume und die Nächte waren die Bücher. Es kamen die Monate, es gingen die Jahre, es blieben die Bücher.
*
Und er liebte Amelie, damals, im letzten Jahrzehnt eines zu Ende gehenden Jahrtausends.
Er war um die dreißig, sie noch nicht einmal sechzehn.
Ihr Vater, der Friseur vom Nachbardorf, drohte, ihm die Gurgel durchzuschneiden.
Das Dorf tratschte. Es freute sich über den Sexskandal, denn so nannten sie es, ja, das war es, ein Skandal, verantwortungslos, sie ist doch noch so jung, wie kann er nur, hat nichts und wird nichts, aber die jungen Mädchen verführen, das kann er, gut, dass’ net mei Dirndl is, die is a anständigs Dirndl …
Tom kümmerte sich nicht um das Gerede.
Er sang und spielte für das Mädchen.
Denn in dieser Zeit hatte er Bob Dylan entdeckt.
Es war spät für diese Entdeckung.
Tom war 1963, in jenem Jahr geboren, als Dylan bereits seine ersten Welterfolge feierte, mit Liedern wie A Hard Rain’s A-Gonna Fall, Blowin’ in the Wind und Don’t Think Twice, It’s All Right . Schon seit langem also war der Mann aus Duluth am Lake Superior ein weltweites Idol, und obwohl gerade die 1980er Jahre der Tiefpunkt von Dylans charismatischer Ausstrahlung und er fast ein Jahrzehnt von der Bildfläche verschwunden war, war er alles, was der Mann aus dem Lamandergraben jetzt dachte, wollte und achtete.
Alles, was ihm fehlte.
Alles, was er fürchtete und was ihn hypnotisch anzog.
Der Dylan ist jetzt seine Bibel, amüsierten sich die Freunde im Haus.
Möglich, dass die vorübergehende radikal-religiöse Phase des amerikanischen Popstars Toms Übergang von der Comunità in etwas grundlegend Neues erleichterte. Möglich, aber nicht ausschlaggebend. Denn was ihn vor allem an Dylan anzog, war die Anarchie in dessen Leben und Liedern, das Ausgesetztsein, die geniale Kunst, in einer einzigen Strophe, einem einzigen Lied, ein ganzes Schicksal zu erzählen, alle Schönheit, alles Elend des Menschen. Tanz auf einem Seil durchs Universum. Erbarmen und Wut, Mitleid und Zorn. Der Einzelne ein rollender Stein zwischen gestern, heute und dem, was kommt, hier und jenseits. The songs are my lexicon and my prayer book. Gewissen der Zeit, nein, das wollte er nicht sein, sagte Dylan, und Tom übernahm es willig, denn Gewissen ist ein wankelmütiger Begriff, Wahrheit ebenso, diese großen Worte hatten ihre Eindeutigkeit verloren. Aber es gab die Songs, die dem nahekamen, die von Schuld, Unrecht und wildem Widerstand zeugten, von miesen Machenschaften, von Krieg und Kriegstreibern, von Niedertracht und Betrug, aber auch von der Würde und der glory des kleinen Menschen, selbst dann, wenn er in der Gosse lebte. Dylan war on the road , unterwegs durch das Leben, durch dieses wahnsinnige, grausame und hinreißende Leben. Machte eine Kehrtwendung nach der anderen, erfand sich neu, ging Irrwege, verlor und gewann, war brüskierend und grandios. Tom, der die Musikalität der Mutter geerbt hatte und viele Instrumente, vor allem sehr gut Gitarre spielte, arbeitete sich in die Strukturen von Blues, Folk, Rock und Pop ein, lernte die Texte, es war keine Mühe, es war ein anderes, bisher unbekanntes Ich, das er fand.
Am Rand der Stadt, verborgen vor dem Zorn des Vaters und dem Neid oder dem Spott der
Weitere Kostenlose Bücher