An diesem einen Punkt der Welt - Roman
Mitschülerinnen, holte Tom Amelie von der Schule ab.
Wenn sie alleine waren im Haus, lehrte sie ihn die Unbefangenheit. Das Ungebändigte einer neuen Generation, wie er es bisher nicht gekannt hatte, die Neugier junger Mädchen, die mit dreizehn „Lolita“ gelesen haben, sich mit vierzehn wie ihre Vorbilder aus dem Fernsehen als sexuell freies Hippiegirl fühlen und mit sechzehn überzeugt sind, erotisch versierter zu sein als ihre Mütter und zu wissen glauben, wie das Leben so läuft.
Dennoch war Tom für sie das große Abenteuer, der Lehrmeister der Differenzen.
Wenn die Freunde fort und sie nur für sich waren, wenn alles in ihm erwachte, sang er Dylans Liebeslieder für sie. Sie lehnte sich an seinen Rücken, küsste seinen Nacken, fuhr mit der Hand langsam die Wirbeln hinunter, jeden einzelnen, er spürte ihre Hüften, ihren Hügel.
To hold each other tight
The whole night through
Ev’rything is always right
When I’m alone with you
Es hielt nicht lange.
5
Es gab anderes, das blieb.
Es ist nachzulesen in den Gemeindeprotokollen des Dorfes, den Streitschriften, Flugblättern und Zeitungsberichten und in Toms braunem Heft mit dem geschmeidigen Umschlag. Die Eintragungen sind das Dokument einer großen persönlichen Anstrengung und zugleich einer Soziologie der Zeit.
Es ist nachzulesen, wie im Haus am Lamanderbach Projekte und Aktionen entstanden, die das Dorf und die ganze Region kritisch belebten, irritierten und heraushoben aus Apathie, Routine und der Haltung des gedankenlosen Hinnehmens. Einmal musste auch hier in der Provinz damit begonnen werden, musste angedacht, initiiert und weitergetrieben werden. Stichworte waren:
Strukturierung des Protestvereins GO FOR BETTER, der sich vor allem gegen die bestehenden Pläne des letzten Teilstückes der Autobahn zur Wehr setzte und sich zum Ziel machte, unzerstörtes Bauernland vor der Zerstückelung und einen der schönsten Kalkalpenflüsse vor vielfachen Überbrückungen zu schützen; Unterstützung der alternativen Bürgerliste ; Protestaktionen gegen die Regierungsbeteiligung einer Partei mit rechtsradikalen Tendenzen; Mitarbeit in der politisch-kulturellen Aktionsgemeinschaft für die gesamte Region, POLIKULT; Gründung eines Kunstvereins und Entwürfe für ein kritisches Literaturforum; Erweiterung der Dorfzeitung von einem simplen Verlautbarungsblatt in ein offenes Diskussionsforum zu wichtigen Gemeindefragen; Kampf für eine ausschließlich biologische Landwirtschaft; Gründung einer mehrsprachigen Bibliothek, von Zusatz-Sprachkursen für Zuwanderer, einer Babykrippe für berufstätige Mütter und so weiter …
Viele junge Frauen waren in der Runde.
Alle wollten sie eine bessere, sozialere Welt.
Hier im Dorf, im kleinen Land des Grillparz.
Was wollt ihr denn noch alles machen, fragte Parmenides. Tom und Matthias waren bei ihm und seiner Frau Roberta zu Gast im Oberdorf, die Sonne lag auf dem gelben Raps. Roberta tischte großzügig auf.
Ins Leben rufen, sagte Tom. Ganz wörtlich genommen und in doppeltem Sinn: entstehen lassen und in das Leben hinein rufen !
Kleine, kläffende Hunde seid ihr, man hört euch, aber man fürchtet euch nicht.
Muss man gefürchtet werden, um sich Gehör zu verschaffen?
Ja, das glaube ich.
Ich glaube, du irrst dich, sagte Matthias.
Oder populistisch sein.
Beides wollen wir nicht, sagte Tom.
Dann werdet ihr erfolglos sein.
Sind wir aber nicht!
Pinscher hört man, ärgert sich über ihr Gekläff und geht zur Tagesordnung über.
Roberta, die in vielen Gremien engagiert war, sah ihren Mann überrascht und gekränkt an. Was redest du da!
Was wir tun, ist kein Gekläff, Parmenides, es ist solide Arbeit, sagte Tom.
Und Matthias: Wir analysieren und tun, was wichtig ist.
Was ist wichtig?
Der Dummheit Nahrung nehmen.
Was ist Dummheit?
Mit dieser Fragerei kommen wir nicht weiter, Parmenides.
Wohin wollt ihr kommen?
Ins Hellere, sagte Tom.
Ihr seid ja ahnungslos.
Die Mühen der Aufklärung, ja! Irgendwer muss es tun. Es geht nur mit Hingabe. Und du weißt ja, Parmenides, dass die Franzosen das Zeitalter der Aufklärung, in dem sie an die perfectibilité , die Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen, glaubten, mit dem Wort lumières bezeichnet haben. Helles. Licht.
Na, dann viel Glück als Weihnachtsmänner.
Wir brauchen kein Glück. Wir brauchen Mitstreiter, sagte Matthias, band seine Haare frei, schüttelte sie zu einem Kopf wie auf Giottos Gemälden und verabschiedete sich verärgert.
Du weißt
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