An einem Tag im Winter
interessierte mich unter anderem der Zusammenprall des Rationalen mit dem Irrationalen. Ellen, meine Protagonistin, ist eine Sucherin mit analytischem Verstand. Auf Seil gerät sie in Konflikt mit Marguerite, der Mutter ihres Verlobten Alec, die ihre irrationalen Gewissheiten dazu benutzt, ihren Sohn an sich zu binden. In der Enge der kleinen Gemeinde, in der sie den Ton angibt, kann sie ihre Egozentrik und ihre verschrobene Denkweise ungehindert ausleben.
Ellen ist Naturwissenschaftlerin. AuÃer in Kriminalromanen werden Wissenschaftlerinnen noch immer relativ selten in den Mittelpunkt eines Romans gestellt. Ich habe mich vom Beispiel meiner Mutter inspirieren lassen. Meine Eltern, beide Naturwissenschaftler, lernten sich in den harten Jahren der Angst und Unsicherheit nach dem Krieg in einem staatlichen Laboratorium kennen. Meine Mutter war Mikrobiologin; sie hatte ihr Studium während des Krieges begonnen, als nur wenige Frauen in den Naturwissenschaften tätig waren und mindestens einer ihrer Dozenten die Studentinnen im Hörsaal ostentativ ignorierte, indem er seine Hörer mit »meine Herren« anredete. Ihre naturwissenschaftlichen Forschungen fanden ein Ende, als sie heiratete und Mutter wurde. Bei meinen Recherchen zu den Karrieren herausragender Wissenschaftlerinnen der damaligen Zeit stieà ich darauf, dass Rosalind Franklin niemals heiratete und Dorothy Hodgkin es nur mit Hilfe von Hausangestellten und einer unerbittlichen Arbeitsmoral schaffte, die Anforderungen von Karriere und Familie unter einen Hut zu bringen. Ich erfuhr auch von der harten Konkurrenz, die in der naturwissenschaftlichen Forschung herrscht, und von der beständigen Angst des Forschers, die Arbeit von Monaten könnte in eine Sackgasse führen oder ein Kollege würde ihn überflügeln und das Rennen um neue Erkenntnisse gewinnen.
Ellen, meine Protagonistin, bleibt immer ehrlich, im Gegensatz zu ihrem Chef, Marcus Pharoah, der gelernt hat, den eigenen Aufstieg mit faulen Kompromissen und Machtmissbrauch zu befördern. Letztlich jedoch erweist sich bei Ellens Suche nach dem Glück nicht Pharoah, sondern Marguerite als das gröÃere Hindernis. Dem Irrationalen ist mit Vernunft nicht beizukommen, das liegt in der Natur der Sache.
Auch wir lebten auf einer Art Insel, zwar nicht vom Meer umspült, doch inmitten weiter Wälder, die mir in An einem Tag im Winter als Vorbild für das Zuhause der kleinen India und ihres Bruders dienten. Mein Vater liebte diese Abgeschiedenheit, meine Mutter begann sie mit der Zeit zu hassen, weil sie sie von ihrer Arbeit und der geistigen Anregung abschnitt, die ihr wichtig waren. Ich selbst fühle mich immer zwischen Stadt und Land hin und her gerissen. Von unserem neuen Haus aus bin ich mit dem Fahrrad im Nu mitten im städtischen Leben mit Museen, Buchhandlungen und Cafés, während mich zu Hause Bäume und Wiesen erwarten. Meine Enkel Luke und Ethan spielen gern auf der Wiese am Fluss. Das jüngste Mitglied unserer Familie, meine Enkelin Marianne, ist erst drei Monate alt, aber wenn sie gröÃer ist, wird sicher auch sie mit Begeisterung von der Wiese aus den vorüberziehenden Booten nachsehen.
Judith Lennox
August 2012
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