An einem Tag wie diesem
der zählte.
Andreas dachte an seine Kindheit, seine Jugend, als Glück oder Unglück, Liebe oder Angst ihn ganz hatten erfüllen können. Wenn die Zeit stillzustehen schien und es keinen Ausweg gab. Er wollte nicht mehr so lieben wie mit zwanzig, aber manchmal vermisste er die Intensität der Gefühle von damals. Und jene Momente, in denen plötzlich alles vorbei war, dieses Gefühl vollkommener
Bedeutungslosigkeit und zugleich größter Freiheit. Eine reine Ansicht der Welt, die ihm in ihrer Schönheit fast den Atem nahm, Farben, Oberflächen, winzige Details, die Maserung eines Stücks Holz oder ein Anstrich, der abblätterte, ein kleines Stück Papier, das unter einem Reißnagel hängen geblieben war, die Rostspuren auf dem Nagel. Er fuhr mit der Hand über die Bank, auf der er saß, über die Wand aus verwitterten Brettern, an die er sich lehnte. Er sog die Luft tief ein und roch die Feuchtigkeit und den modrigen Geruch des Waldes und den süßlichen Geruch von irgendwelchen späten Blüten. Er konnte sich an das Gefühl erinnern, aber er empfand es nicht mehr.
Er würde Fabienne wohl nicht wiedersehen. Es spielte keine Rolle, ob er sie wiedersehen würde. Ihre Geschichte war zu Ende. Eine Geschichte von vielen, von unendlich vielen, die jeden Moment begannen und endeten.
Andreas ging an der Umgehungsstraße entlang und dann auf das Dorf zu. Er kam am kleinen Lebensmittelgeschäft vorbei, in dem er als Kind manchmal Süßigkeiten gekauft hatte. Er war auf dem Schulweg hier vorbeigekommen und war, wenn er Geld gehabt hatte, hineingegangen und hatte Schokolade gekauft oder Kekse. Damals war er immer hungrig gewesen, hatte zwischen den Mahlzeiten jederzeit fast beliebige Mengen von Süßigkeiten essen können. Über die Jahre hatte sein Appetit nachgelassen. An manchen Tagen aß er nicht viel mehr als ein Sandwich am Mittag und eins am Abend.
Er trat in das Geschäft und ging zwischen den Regalen hindurch. Er kaufte eine Flasche Wein und zwei Tafeln Schokolade. An der Kasse saß eine junge Frau. Ihrem Dialekt nach stammte sie nicht aus der Gegend. Sie machte eine Bemerkung über das Wetter. Ein schlechter Sommer sei es gewesen, sagte sie, und Andreas nickte und sagte, man könne nur hoffen, dass der Herbst schöner werde.
»Vielleicht wird es noch einmal warm«, sagte er.
Die Verkäuferin sagte, das glaube sie nicht.
Andreas ging die Straße hinunter, in der er aufgewachsen war. Es war Mittag, und in den Gärten war kein Mensch zu sehen. Ein Haus hatte eine andere Farbe als früher, an ein anderes war eine Garage angebaut worden, sonst schien sich kaum etwas verändert zu haben. Die riesige Tanne gegenüber von Andreas’ Elternhaus war gefällt worden. Dort, wo sie einmal gestanden hatte, war nur noch der Stumpf zu sehen und daneben eine frisch gepflanzte kleine Tanne. Es würde Jahrzehnte dauern, bis sie so groß war wie der alte Baum, dachte Andreas. Er würde es nicht erleben, auch nicht sein Bruder und Bettina, vermutlich noch nicht einmal ihre Kinder.
Als Andreas durch das quietschende Gartentor trat, erschien Walter am offenen Fenster. Er schaute Andreas verblüfft an. Was machst du denn hier, rief er. Im nächsten Moment kam er den Gartenweg entlanggerannt. Kurz vor Andreas blieb er stehen. Er schien zu zögern. Auch Andreas zögerte, dann umarmte er den Bruder. Walter erwiderte die Umarmung ungeschickt.
»Komm herein«, sagte er, »wir wollten eben essen.«
Andreas reichte ihm die Weinflasche.
»Ein Bordeaux«, sagte Walter und betrachtete die Flasche mit anerkennendem Blick.
Andreas sagte, er wolle kurz ums Haus gehen und sich den Garten anschauen.
Die Beete waren von niedrigem Unkraut überwuchert, und der Haselnussstrauch an der Westseite hatte sich ausgebreitet und reichte fast bis zur Dachkante. Walter sagte, er sei zuständig für den Garten, aber er habe zu wenig Zeit. Er sei schon froh, wenn er alle zwei Wochen zum Rasenmähen komme. Es wachse alles, wie es wolle.
Als sie ins Haus kamen, legte Bettina eben ein fünftes Gedeck auf. Sie musste den Gast aus dem Fenster gesehen haben. Auch sie schien sich über seinen Besuch so zu freuen, dass es Andreas beinah peinlich war. Sie umarmte ihn. Die Kinder gaben ihm die Hand. Maja war ein hübsches Mädchen geworden. Sie war größer als Bettina und hatte eine selbstsichere Art. Lukas war zwei Köpfe kleiner als sie, ein stiller Junge, der Andreas an seinen Bruder erinnerte. Er reichte jedem der beiden eine Tafel Schokolade und sagte, er
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